Jünger, Hans

Orientierung und Kompetenz

Musikschullehrkräfte in der allgemein ­bildenden Schule: das Hamburger OK-Modell

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 5/2015 , musikschule )) DIREKT, Seite 02

Das Hamburger OK-Modell beschreibt die unterschiedlichen Aufgaben musi­kalischer Bildung im Allgemeinen und des Schulfachs Musik im Besonderen. Es hilft, die jeweiligen Anforderungen an die Unterrichtenden zu bestimmen und die Arbeitsteilung zwischen Lehrkräften mit unterschiedlicher Ausbil­-dung zu klären.

Schulmusik und Musikschule

Für Leo Kestenberg war die Sache noch recht ein­fach: In seiner programmatischen Schrift Musikerziehung und Musikpflege, mit der er 1921 ein Gesamtkonzept für die musikalische Bildung in Preußen vorlegte, ging er von einer klaren Arbeitsteilung zwischen „Schulmusik“ und „Musikschule“ aus. Kindergärten, Volksschulen und Höhere Lehranstalten sollten Kinder und Jugendliche an die Musik im Allgemeinen heranführen, Privatmusiklehrer, Musikschulen und Konservatorien sollten die Spezialausbildung für Gesang oder Inst­rumentalspiel übernehmen. Für jede der beiden Aufgaben sollte es entsprechend aus­­gebildete Lehrkräfte geben: den Studienrat für Musik in der allgemein bildenden Schu­le, die staatlich geprüfte Instrumental- bzw. Gesangslehrerin in der Musikschule.1
Seit etwa 20 Jahren lässt sich ein Verschwimmen der Zuständigkeiten beobachten, ein stetig zunehmender „grenzüberschreitender Verkehr“, und zwar vor allem in eine Richtung: Immer mehr Musikschul­lehrkräfte finden ihr Tätigkeitsfeld in der allgemein bildenden Schule. Dabei lassen sich zwei Konstellationen unterscheiden:
– In der einen übernehmen Lehrkräfte Auf­gaben, auf die sie eigentlich nicht vorbereitet sind: Musikschullehrkräfte werden für den allgemein bildenden Musikunterricht eingesetzt, wo es an Schulmusikern fehlt. So war es z. B. in den 1990er Jahren, als einige Bundesländer die „verlässliche“ Halbtagsgrundschule einführ­ten und schlag­artig den gewachsenen Lehrerbedarf in den mu­sischen Fächern abzudecken hatten.2
– In der anderen Konstellation übernimmt eine Institution Aufgaben, die ihr traditionell nicht zukommen: Die allgemein bildende Schule bietet Instrumental- und Gesangsunterricht an und beschäftigt dafür Musikschullehrkräfte. Verstärkt geschieht dies, seit die Ergebnisse von PISA 2000 eine bundesweite Ganztagsschulkampagne angestoßen haben und der ausgeweitete Nachmittagsunterricht der allgemein bildenden Schule in Konkurrenz zu den bisherigen Unterrichtszeiten der Musikschule getreten ist. Dieses Problem wird häufig dadurch gelöst, dass man das Musikschulangebot unter das Dach der Ganztagsschule holt.3
Die Skepsis der Schulmusikerverbände ­gegenüber dieser Entwicklung ist groß. Symptomatisch die Kontroverse um die Deutungshoheit über den Begriff Musikunterricht, die 2011 von Äußerungen der damaligen Arbeits- und Sozialministerin Ursula von der Leyen ausgelöst wurde. Als sie davon sprach, das von ihr gestartete „Bildungspaket“4 sorge dafür, dass nun endlich jedes Kind Musikunterricht bekommen könne, war die Empörung bei AfS und VDS groß – nicht etwa, weil zehn Euro im Monat viel zu wenig sind, sondern weil die Ministerin Instrumentalunterricht gemeint, aber „Musikunterricht“ gesagt hatte: Dieser Begriff sei dem vorbehalten, was Schulmusiker in der allgemein bildenden Schule veranstalten.5
Solche Empfindlichkeiten sind wohl weniger Ausdruck einer Konkurrenz zwischen den beiden Berufsgruppen Schulmusiker und Musikschullehrer als vielmehr Symptom für eine weit verbreitete Unsicherheit über die Funktionen des Schulfachs Musik. Seit Kestenberg haben sich die Rahmen­bedingungen für musikalische Bildungs­angebote stark verändert. Dennoch hat es seither keinen Versuch mehr gegeben, die Aufgaben für die verschiedenen Bildungsträger zu beschreiben. Zwar sind seit den 1970er Jahren eine ganze Reihe musik­didaktischer Konzeptionen vorgelegt worden, doch diese sind in aller Regel auf den zweistündigen Pflichtunterricht an der allgemein bildenden Schule fokussiert und blenden alle übrigen musikerzieherischen Aktivitäten weitgehend aus.
Erst im vergangenen Jahrzehnt ist aus vielen Diskussionen und Erprobungen im Rahmen der Hamburger Musiklehrerausbildung ein Konzept entstanden, das die musikalische Bildung als Ganzes in den Blick nimmt. Das OK-Modell macht den Versuch, von einem konstruktivistischen Bildungsbegriff ausgehend zu skizzieren, wie Schulen die Lernenden beim musikalischen Bildungsprozess unterstützen können.6 Dieses Modell kann dabei helfen, die Arbeitsteilung zwischen Schulmusik- und Musikschullehrkräften, insbesondere bei der Zusammenarbeit in der allgemein bildenden Schule, näher zu bestimmen.

Orientierung und Kompetenz

Das Modell geht von drei Prämissen aus. Aus ihnen lassen sich Aufgaben ableiten, die sich einem Menschen stellen, der sich musikalisch bilden will.
1. Musik, in welcher Form auch immer, bereichert das Leben. Wer ein gutes Leben führen will, muss sich also eine oder mehrere musikalische Tätigkeiten aneignen und sie ausüben: Er muss in einem Chor singen, in einer Band spielen, ins Konzert gehen, CDs sammeln usw.
2. Zur Ausübung musikalischer Tätigkeiten braucht man Kompetenzen. Wer sich musikalisch betätigen will, muss also die entsprechenden Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben.
3. Man kann nicht alle musikalischen Tätigkeiten erlernen und ausüben. Man muss also zwischen den Möglichkeiten wählen. Um aber eine Wahl treffen zu können, muss man diese Möglichkeiten kennen lernen, das heißt die in Frage kommenden Tätigkeiten ausprobieren.
Wenn man jemanden dabei unterstützen will, sich musikalisch zu bilden, kann man das auf folgende Arten tun:
1. Man kann ihn mit musikalischen Tätigkeiten bekannt machen. Man kann ihn bei­spielsweise Instrumente ausprobieren lassen, damit er sich für oder gegen Instru­mentalunterricht entscheiden kann, oder man konfrontiert ihn mit außereuropäischer Kunstmusik, um seinen musikalischen Erfahrungshintergrund zu erweitern.
2. Man kann ihn bei der Auswahl musi­kalischer Tätigkeiten beraten. Wenn man bei ihm z. B. eine gute Stimme, ein gutes Gehör und Spaß am Singen feststellt,
kann man ihm eine Gesangslehrerin vermitteln, und wenn er gerne tanzt, wird man ihm einen entsprechenden Tanzkurs empfehlen.
3. Man kann ihm musikalische Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, die er bei den von ihm gewählten Tätigkeiten benötigt. Wenn er z. B. Trompeter oder Geiger werden will, kann man ihm das Notenlesen beibringen, und wenn er gerne in die Oper geht, kann man ihn über die Funktion von Leitmotiven informieren.
4. Man kann ihm die Ausübung des Gelernten ermöglichen, indem man ihm Gelegenheit zur Ausübung der selbst gewählten Tätigkeiten gibt. Man kann ihn z. B. in einem Chor mitsingen lassen oder in ein Konzert mitnehmen.
Die ersten beiden Möglichkeiten – Bekannt­machen und Beraten – hängen eng miteinander zusammen und lassen sich unter dem Begriff „Orientierung“ zusammen­fassen. Entsprechendes gilt für Erwerb und Anwendung von Fähigkeiten: Für diese beiden Aufgaben steht das Schlagwort „Kompetenz“. Die knappste Umschreibung der Funktionen musikalischer Bildungsangebote ist somit die Abkürzung „OK“.

Pflicht und Wahl

Der wichtigste Unterschied zwischen den beiden Bildungsaufgaben Orientierung und Kompetenz besteht darin, dass der Kompetenzerwerb eine Wahlentscheidung voraussetzt: Bevor sich jemand ernsthaft darum bemüht, musikalische Fähigkeiten zu erwerben, muss er die entsprechende Tätigkeit ausüben wollen. Selbstverständlich kann man die Aneignung von Wissen und Können auch erzwingen – das geschieht ja tagtäglich in unseren Schulen, wenn Schüler und Schülerinnen nicht aus Interesse, sondern wegen eines Schulabschlusses lernen. In Bezug auf Schreiben, Rechnen und andere lebensnotwendige Fähigkeiten mag das auch legitim sein. Im Bereich der Musik jedoch gibt es keine Rechtfertigung für erzwungenes Lernen, denn in unserer heutigen Gesellschaft kann man von keiner musikalischen Fähigkeit sagen, dass jeder sie braucht. Deswegen sollte nachhaltiges, über bloßes Ausprobieren hinausgehendes Musiklernen grundsätzlich freiwillig stattfinden.7
Orientierung dagegen setzt keine Wahlentscheidung voraus. Ganz im Gegenteil: Orientierung ist die Voraussetzung für eine Wahlentscheidung, wenn diese vernünftig, das heißt überlegt und begründet sein soll. Wer vor der Frage steht, ob er Klavier lernen will, der muss zuvor erfahren, wie ein Klavier aussieht, wie es sich anhört, wie man darauf spielt, wofür man es verwenden kann, was es kostet usw. Denn was man nicht kennt, dafür kann man sich nicht entscheiden. Deshalb ist es auch legitim, Kinder und Jugendliche mit musikalischen Möglichkeiten zu konfrontieren, ohne dass sie danach verlangt haben, z. B. in Situationen wie dem schu­lischen Musikunterricht, an dem die Schüler vielleicht bereitwillig, aber jedenfalls nicht freiwillig teilnehmen.
Orientierung als Pflicht, Kompetenz als Kür – da scheint die traditionelle Arbeitsteilung, wie sie auch Kestenberg seiner Konzeption zugrunde legte, fast eine logische Folge zu sein: Die allgemein bildende Schule (die wegen der Schulpflicht obligatorisch für alle ist) sorgt für das Kennenlernen, die Musikschule (die mehr oder weniger freiwillig besucht wird) für das Könnenlernen. Doch so einfach ist es nicht mehr und war es wohl auch nie.
Das liegt zum einen daran, dass an allgemein bildenden Schulen in den vergangenen vierzig Jahren immer mehr und immer vielfältigere Wahlangebote eingerichtet worden sind. Immer schon gab es, zumindest an den Gymnasien, Chor und Orchester, in denen man auf freiwilliger Basis musikalische Fähigkeiten anwenden und musikalische Tätigkeiten ausüben konnte. Heute werden aber auch alle möglichen anderen Ensembles angeboten: Bigbands und Rock-Bands, Samba- und Flötengruppen, Tanz- und Computer-AGs usw.
Dazu kommt immer häufiger, oft in Verbindung mit den jeweiligen Ensembles, Inst­rumental- und Gesangsunterricht. Auch das gab es vereinzelt schon früher, z. B. wenn ein Schulmusiker einer begabten, aber mittellosen Schülerin Klavierunterricht gab. Heute leisten sich manche Schulen ein umfangreiches Angebot an Gruppen- und Einzelunterricht für Blas-, Streich-, Zupf-, Tasten- und Schlaginstrumente, und zwar nicht nur als Schnupperkurs (wie im Projekt JeKi, das z. B. im Ruhrgebiet und in Hamburg Grundschulkinder erste Erfahrungen mit dem Erlernen eines Instruments machen lässt und damit der Orientierung dient), sondern mit dem Anspruch auf ernsthaften und nachhaltigen Kompetenzwerb.
Andererseits können auch Musikschulen und Privatmusiklehrkräfte nicht immer davon ausgehen, dass bei ihren Schülerinnen und Schülern eine Wahl stattgefunden hat. In vielen Fällen dürften es die Eltern sein, die für ihr Kind entschieden haben. Das bedeutet, dass auch hier die Aufgabe der Orientierung ansteht, des Bekannt­machens mit den Möglichkeiten, des Ausprobierenlassens, der Beratung als Unterstützung für eine eigenständige Entscheidung. Die Lehrkräfte haben es also sowohl in der allgemein bildenden Schule als auch in der Musikschule mit sehr unterschied­lichen Unterrichtssituationen zu tun, und sie müssen sich bei ihren didaktischen Entscheidungen immer fragen: Sind meine Schülerinnen und Schüler zur Teilnahme verpflichtet oder nehmen sie freiwillig teil? Und was ist mein Ziel: dass sie etwas kennen oder dass sie etwas können?

Lehramt und Diplom

Instrumentalunterricht in der allgemein bildenden Schule – das kann man durchaus als Übergriff empfinden, und zwar in beiden Richtungen:
– Aus Sicht der Musikschulen und Privatmusiklehrkräfte ist es ein Einbruch in die eigene Domäne, und für diejenigen, die dort ihren Lebensunterhalt verdienen, stellt die staatliche Konkurrenz möglicherweise ein ökonomisches Problem dar: In der Regel ist der Instrumentalunterricht in der allgemein bildenden Schule kostengünstiger als Privatmusikunterricht, oft sogar kostenlos.
– Aus Sicht der Schulmusiklehrkräfte kann es als Bedrohung empfunden werden, wenn in der allgemein bildenden Schule schlech­ter bezahlte Musikschullehrkräfte eingesetzt werden, insbesondere dann, wenn sie dort fehlendes Personal ersetzen sollen und mit allgemein bildendem Musikunterricht beauftragt werden: Die Schulträger könnten auf die Idee kommen, dass man Musikunterricht auch billiger haben kann, als wenn man teure Schulmusiklehrkräfte beschäftigt.
Aus Sicht der Nutzer musikalischer Bildungsangebote steht allerdings eine andere Frage im Vordergrund: Wer erteilt welchen Unterricht und wie qualifiziert ist er für diese Aufgabe?
Schon für Kestenberg war es ein vorrangiges Anliegen, dass die Lehrkräfte an ihrem jeweiligen Platz hinreichend für ihre Aufgaben ausgebildet waren.8 Er initiierte die Einrichtung von Ausbildungsstätten, die Entwicklung von Studiengängen und den Erlass von Prüfungsordnungen für Schulmusik und Musikpädagogik. Damit hat er wesentlich dazu beigetragen, dass es heute gut qualifizierte Lehrkräfte für alle Bereiche der musikalischen Bildung gibt. Jetzt muss nur noch dafür gesorgt werden, dass diese Lehrkräfte auch an den richtigen Stellen eingesetzt werden.
Die Zuordnung der Schulmusiker zur allgemein bildenden Schule, der Diplom­musikerzieher zur Musikschule entspricht heute nicht mehr der tatsächlichen Arbeitsteilung zwischen den Institutionen. Kriterium für die Auswahl der Lehrkraft muss die konkrete Aufgabe des jeweiligen Bildungsangebots sein.

Aufgabe: Orientierung

Unterrichtssituationen, in denen es vorrangig um Orientierung geht, erfordern eine Lehrkraft, die sich einen breiten Überblick über musikalische Möglichkeiten verschafft hat. Dabei ist zwischen zwei Funktionen von Orientierung zu unterscheiden:
– Orientierung als Entscheidungshilfe: Wenn es darum geht, Schülerinnen und Schülern bei der Entscheidung für oder gegen die Aneignung musikalischer Tätigkeiten zu helfen, muss die Lehrkraft mit den in unserer Gesellschaft in Frage kommenden musikalischen Praxen hinreichend vertraut sein und auch die Methoden beherrschen, die man braucht, um Schülerinnen und Schüler mit diesen Praxen bekannt zu machen.
– Orientierung als Erfahrungshintergrund: Wenn es darum geht, den musikalischen Horizont der Schülerinnen und Schüler zu erweitern und ihr „Bild von Musik“9 auszudifferenzieren, muss die Lehrkraft darüber hinaus auch alternative Möglichkeiten von Musik kennen und zeigen können,
z. B. nicht-abendländische und außereuropäische Volks-, Kunst- und Popmusik.
Orientierung findet meist im Pflichtunterricht statt, an dem die Schülerinnen und Schüler nicht freiwillig teilnehmen. Da es sich dabei in der Regel um Klassenunterricht handelt, die Lehrkraft es also mit großen Lerngruppen zu tun hat, muss sie die Methoden des Classroom Management beherrschen.
Wenn es um Orientierung als Erfahrungshintergrund geht, werden die Schülerinnen und Schüler oft mit „unpopulärer“ Musik konfrontiert, das heißt mit Musik, der sie kein spontanes Interesse entgegenbringen. Deshalb muss die Lehrkraft wissen, wie man Kinder und Jugendliche zur Auseinandersetzung mit Unbekanntem und Fremdartigem motiviert.
Zweifellos wird man auf diese Aufgaben am gezieltesten durch ein Schulmusikstudium vorbereitet. In manchen „O-Situationen“ der ersten Art (Orientierung als Entscheidungshilfe) kann es allerdings auch hilfreich sein, Spezialist für eine bestimmte musikalische Praxis zu sein. Das trifft z. B. für das sogenannte Instrumentenkarussell zu, eine Veranstaltungsform, die sowohl an allgemein bildenden wie an Musikschulen bekannt ist: Alle Schülerinnen und Schüler dürfen nacheinander verschiedene Musikinstrumente ausprobieren und werden in Bezug auf ihre Vor- und Nachteile beraten. Hier sollte im Idealfall jedes Instrument von einer entsprechenden Instrumentallehrkraft vorgestellt werden. Ähnlich liegt der Fall bei dem Hamburger Projekt „Jedem Kind ein Instrument“: In der 2. Klasse lernen die Grundschulkinder verschiedene Instrumente ken­nen, um sich am Schuljahresende für eines entscheiden zu können. Dieser Unterricht wird zwar von einer Schulmusiklehrkraft organisiert, für die nötigen Fachkenntnisse sind aber die unterschiedlichen Instrumentallehrkräfte zuständig, die übers Jahr verteilt in die Klasse kommen.

Aufgabe: Kompetenz

Unterrichtssituationen, in denen es vorrangig um nachhaltigen Kompetenzerwerb geht, erfordern nicht so sehr den breiten Überblick (wie es in „O-Situationen“ der Fall ist), sondern vor allem vertiefte Kenntnisse und Fähigkeiten, und zwar auf zwei Ebenen:
– Einerseits muss die Lehrkraft die jeweilige Tätigkeit beherrschen, etwa ein bestimmtes Instrument gut spielen können.
– Andererseits muss sie das methodische Know-how besitzen, um Schülerinnen und Schülern beim zielgerichteten Aufbau der entsprechenden Fähigkeiten helfen zu können.
Kompetenzerwerb für selbst gewählte Tätigkeiten findet in unterschiedlichen So­zialformen statt, im Einzel- oder Gruppenunterricht wie z. B. Instrumentalunterricht, aber auch in großen Lerngruppen wie z. B. Chor oder Tanzkurs. Jede dieser Unterrichtsformen verlangt von der Lehrkraft spezifische methodische Fähigkeiten.
Das gilt vor allem auch in Bezug auf die Lernmotivation. Zwar sollte im Fach Musik ein Kompetenzerwerb, der über Ausprobieren und Schnupperkurs hinausgeht, grundsätzlich freiwillig stattfinden.10 Doch auch dann, wenn man von einem prinzipiellen Einverständnis der Schülerinnen und Schüler mit den Lerninhalten ausgehen kann, muss die Lehrkraft motivieren können. Allerdings geht es nicht, wie bei Orientierung als Erfahrungshintergrund, darum, Vorbehalte gegenüber dem Fremden abzubauen, sondern – fast im Gegenteil – um Ausdauer bei der Beschäftigung mit dem Bekannten. Zum Kompetenz­erwerb gehört nämlich auch Üben und Trainieren – Handlungen, die nicht immer als Vergnügen empfunden werden. Hier braucht die Lehrkraft ein Methodenrepertoire, um mit Abwechslung und Humor Langeweile und Überdruss vermeiden zu können.
Gleich ob Musikschule oder allgemein bildende Schule: für qualifizierten Instrumental-, Gesangs- und Tanzunterricht benötigt man Musikschullehrkräfte. Sie sind Experten auf ihrem jeweiligen Gebiet. Bei der Leitung von Chören, Orchestern, Bands kommen sowohl Musikschullehrkräfte als auch Schulmusiker in Frage, sofern sie sich auf Ensembleleitung spezialisiert haben.

Musikschullehrkräfte und ­allgemein bildende Schule

Was können Musikschullehrkräfte zum Musikunterricht der allgemein bildenden Schule beitragen? Diese Frage kann nun vor dem Hintergrund des Hamburger OK-Modells folgendermaßen beantwortet werden:
– Im Wahlbereich (das heißt auf freiwilliger Basis) werden Instrumentalspiel, Gesang und Tanz als Einzel- und als Gruppenunterricht angeboten. Dieser Unterricht wird von entsprechend qualifizierten Musikschullehrkräften erteilt.
– Im Wahlbereich werden außerdem Chor, Orchester, Band und Tanzensemble angeboten. Diese Ensembles werden von entsprechend qualifizierten Musikschul- oder Schulmusiklehrkräften geleitet.
– Im Pflichtunterricht werden die Schülerinnen und Schüler unter anderem mit verschiedenen Instrumenten bekannt gemacht, die sie erlernen können. Hierbei ­arbeiten Musikschullehrkräfte (als Spezialisten für das jeweilige Instrument) und Schulmusiklehrkräfte (als Spezialisten für Classroom Management) im Tandem zusammen.
Auf die übrigen Aufgaben des Schulfachs Musik sind Musikschullehrkräfte nicht vorbereitet: Wenn Schulklassen mit nordafrikanischer Popmusik oder mit den Funk­tionen der Filmmusik bekannt gemacht werden sollen, braucht man Schulmusiklehrkräfte. Auch die Bewertung von Schülerleistungen oder die Erarbeitung von Curricula erfordert eine entsprechende Ausbildung. Musikschullehrkräfte sollten es ablehnen, mit Aufgaben betraut zu werden, für die sie nicht qualifiziert sind.
Das ist leichter gesagt als getan. Schulen sind leider nicht selten in der Situation, dass sie abwägen müssen, was schlechter ist: den Musikunterricht ausfallen zu lassen oder eine nicht dafür qualifizierte Lehrkraft damit zu beauftragen. Außerdem gibt es erfahrungsgemäß immer wieder „Naturtalente“, die eine Schulklasse angemessen auf einen Opernbesuch vorbereiten können, auch wenn sie „nur“ Inst­rumentalunterricht gelernt haben; es gibt ja auch gelegentlich Schulmusiker, die akzeptablen Trompetenunterricht erteilen, ohne ein Studium der Instrumentalpädagogik absolviert zu haben.
Doch Notfallsituationen und Ausnahmetalente eignen sich nicht als Leitlinie. Grundsätzlich sollte man, gerade im Bildungsbereich, verlangen, dass die dort Tätigen für ihre Tätigkeit hinreichend ausgebildet sind. Wird diese Forderung erfüllt, besteht kein Grund zur Eifersucht zwischen Schulmusikern und Musikschullehrkräften, und einer guten Zusammenarbeit zum Wohl von Kindern und Jugendlichen steht nichts im Wege.

1 vgl. Leo Kestenberg: Musikerziehung und Musikpflege, Leipzig 1921, S. 30 ff., 53 ff.
2 Jüngstes Beispiel für diese Entwicklung ist ein Konzept des brandenburgischen Bildungsminis­teriums, das die allgemein bildenden Schulen ermutigt, Musikschullehrer als Ersatz für fehlende Schulmusiker zu beschäftigen: Land Brandenburg. Ministerium für Bildung, Jugend und Sport: Lehrkräfte an Musik- und Kunstschulen: Chancen für Unterricht an Brandenburgs öffentlichen Schulen, Presseinformation vom 18.12.2014, www.mbjs.brandenburg.de//sixcms/detail.php/bb1.c.385325.de (Stand: 24.8.2015).
3 Der Deutsche Musikrat hat 2004 ein Positions­papier zu „Musik in der Ganztagsschule“ verabschiedet, in dem die Kooperation von allgemein bildender Schule und Musikschule propagiert wird: Deutscher Musikrat: Musik in der Ganztagsschule. Positionspapier, 2004, www.musikrat.de/ musikpolitik/tagungen-kongresse/musik-in-der-ganztagsschule.html (Stand: 24.8.2015).
4 Gemeint ist das Gesetz zum Bildungs- und Teilhabepaket von 2011, das für hilfebedürftige Kinder und Jugendliche unter anderem einen Zuschuss von monatlich zehn Euro für die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben vorsieht: Bundesministerium für Arbeit und Soziales: Bil­dungspaket, 2011, www.bildungspaket.bmas.de (Stand: 24.8.2015).
5 „Der Begriff ,Musikunterricht’ ist verbandlich und bildungspolitisch ganz eindeutig definiert. […] ­(Er meint) ausschließlich den allgemein bil­denden Unterricht an den verschiedenen Schulformen, zu dessen Erteilung man sich mit einem Lehramtsstudium qualifiziert.“ Jürgen Terhag/Ortwin Nimczik: „Bildung – Musik – Kultur: Zu­kunft gemeinsam gestalten. 1. Bundeskongress Musikunterricht 2012“, in: AfS aktuell 33/2012, S. 33.
6 vgl. Hans Jünger: Das OK-Modell. Tätigkeitsorientierte Musikpädagogik, 2014, www.ok-modell-musik.de (Stand: 24.8.2015).
7 Hier muss zumindest erwähnt werden, dass es eine Ausnahme von dieser Regel gibt: Beim Er­werb der sogenannten „Zeitfensterkompetenzen“ ist Freiwilligkeit nachrangig, denn diese Fähigkeiten können ab einem bestimmten Alter kaum noch erlernt werden. Das betrifft den Gebrauch der Stimme und das musikalische Gehör sowie den Gebrauch des Bewegungsapparats und das „Rhythmusgefühl“. Daher ist es in Kindergarten, Grundschule und Beobachtungsstufe legitim, die Kinder notfalls mit extrinsischen Mitteln zum Sin­gen und Tanzen zu motivieren.
8 vgl. Kestenberg, S. 82 ff.
9 Eine Formulierung von Hermann J. Kaiser: „Von ‚musikalischer Bildung‘ zum ‚Bild von Musik‘“, in: Musikforum 3/2004, S. 10-15.
10 Ausnahme: „Zeitfensterkompetenzen“ (Anm. 7).