Sommerfeld, Jörg
Pädagogik von der Stange
Unterrichtskonzepte in der Musikschuldidaktik
In unterschiedlicher Weise formulieren Unterrichtskonzepte Lernziele und vor allem Lehrmethoden, definieren erwünschtes Lehrerhandeln und verstärken dieses durch Unterrichtsmaterial, Fortbildung und Austausch. Manche von ihnen erzeugen sogar eine Art Markenbewusstsein bei den anwendenden Lehrkräften.
Etablierte Konzepte sind vielen Lehrkräften zumindest dem Namen nach bekannt, etwa die von Shinichi Suzuki (musikalisches Imitationslernen, Analogie zum Spracherwerb), Zoltan Kodály (Chorgesang und Solmisation), Carl Orff (leicht spielbare Instrumente und „elementares“ Musizieren), Paul Rolland (Streicherklassen) oder von David Baker (Oktatoniken und Kontrapunktik für Jazz-Lines). Unterrichtskonzepte entwickeln eine eigenständige Unterrichtskultur und haben neben einer Anwendergemeinde manchmal auch entschiedene Gegner.
In der Instrumentalpädagogik haben sie in der Regel nicht dieselbe didaktische Fundierung, wie das bei Konzepten der Schulpädagogik der Fall ist. Die dortige Fachdiskussion führt zu wesentlich differenzierteren Begründungen und einer Einordnung in die allgemeine Didaktik, zum Beispiel beim „Handlungsorientierten Unterricht“.1 Musikschulpädagogische Konzepte sind dagegen durch eine starke Methodenorientierung geprägt. Es sind meistens von Praktikern entwickelte Modelle zunächst des Unterrichtshandelns, die nach und nach zu stimmigen Gesamtkonzepten ausgebaut wurden.
Typische Merkmale von musikschulpädagogischen Unterrichtskonzepten sind
– ein oder mehrere klare Anwendungsfelder. Eine bestimmte Altersgruppe, ein bestimmtes Unterrichtssetting und ein bestimmtes organisatorisches Umfeld sind in der Regel Voraussetzung für ihre Anwendung.
– Unterrichtsmaterialien, die konkret für dieses Konzept entworfen wurden. Im günstigsten Fall gibt es sogar konkurrierende Autoren, sodass Lehrkräfte Wahlmöglichkeiten haben.
– ein Fortbildungssystem, das für die Verbreitung des Konzepts sorgt.
– eine Anhängerschaft: Viele Adepten eines bestimmten, für sie funktionierenden Konzepts bleiben diesem sehr lange unreflektiert treu, denn sie haben sich dessen Grundlagen mit hohem Aufwand aneignen müssen.2
Typische Unterscheidungsmerkmale zwischen Unterrichtskonzepten in der Musikschulpädagogik sind
– ihre Unterschiede in der Darstellung der didaktischen Grundlagen, etwa Ziel-, Inhalts- und Methodenentscheidungen. Das ist problematisch für die Anschlussfähigkeit an anderen Unterricht. Auch ein Vergleich mit anderen Konzepten fehlt oft. Dieser Umstand verhindert eine gegenseitige Befruchtung durch Konkurrenz. In der wissenschaftlichen Begleitung (fachdidaktisch, fachwissenschaftlich, allgemeindidaktisch, empirisch) gibt es ebenso große Unterschiede.
– die geografische Reichweite: Instrumentalpädagogische Unterrichtkonzepte gehören manchmal in ein bestimmtes Bildungssystem oder passen nur in einer bestimmten kulturellen Umgebung. Andere kommen weltweit zum Einsatz, was durch den viel größeren fachlichen Austausch auch zu einer höheren Qualität führen kann.
– die Zahl der betroffenen Unterrichtsfächer: Da instrumentalpädagogische Unterrichtskonzepte in der Regel mehrere Instrumentalfächer einschließen, wie etwa alle Streichinstrumente bei Paul Rolland, befördern sie einen Austausch über die meist enge Sichtweise einzelner Fachdidaktiken hinweg.
„Unterrichtskonzepte liefern eine griffige Orientierung unterrichtspraktischen Handelns“,3 und es gibt neben den Klassikern auch einige neuere Entwicklungen.
El Sistema
Dass Instrumentalunterricht auch ganz anders aufgebaut werden kann als in deutschen Musikschulen, demonstriert das venezolanische Modell.4 Methodisches Grundprinzip ist hier das gemeinsame Lernen, die Kinder kommen täglich mehrere Stunden zum Üben und Proben in die „Nukleos“, die lokalen Musikschulen. Es gilt der Grundsatz „Passion first, refinement second“, alle Orchestermitglieder wirken direkt bei schwierigen Stücken mit, auch wenn sie ihr Instrument noch nicht vollständig beherrschen. Ein gemeinsames Repertoire von Orchesterstücken bildet die didaktische Leitlinie, und ein mehrstufiges System von Auswahlorchestern bietet Herausforderungen. Die PädagogInnen lernen genauso wie die Kinder vor Ort nach dem Prinzip „learning by doing“, begleitet durch die Leidenschaft („passion“) zu lehren. Das jedenfalls legen die Beschreibungen europäischer InstrumentalpädagogInnen nahe, die selbst vor Ort gearbeitet haben.
Bläser- und Streicherklassen
Ein instrumentalpädagogisch5 geprägtes Klassenmuszieren gibt es als Wahlangebot in immer mehr allgemeinbildenden Schulen, man kann von einem regelrechten Boom sprechen.6 Die entsprechende Pädagogik hat ihren Ursprung in den USA, wo die Instrumentalausbildung Bestandteil des allgemeinbildenden Schulsystems ist. Eine gesamte Schulklasse probt statt Regelunterricht ein- oder mehrmals pro Woche als Klassenorchester. Meistens unterrichten mehrere Lehrkräfte, etwa ein Instrumentalpädagoge und eine Schulmusikerin gemeinsam alle Kinder, die auf unterschiedlichen Instrumenten einer Familie (Bläser, Streicher, andere seltener) spielen. Begleitet wird das häufig von instrumentalem Gruppenunterricht oder Registerproben in den einzelnen Instrumentalfächern.
Associated Board of the Royal Schools of Music
Ähnlich wie das deutsche Musikschulsystem ist das angelsächsische „ABRSM“7 geprägt durch Einzelunterricht. Jedoch wird mit sehr viel konkreteren Lehrplänen gearbeitet, die in acht „Grades“ aufgeteilt sind. Um den nächsten Grade zu erreichen, müssen SchülerInnen einem externen, speziell geschulten Prüfer vorspielen und einen Theorietest bestehen. Auswahllisten definieren die Stücke der Prüfungen. Die Lehrpläne sind eine Fundgrube guter und aufeinander abgestimmter Materialien, und neben den Ausgaben des ABRSM-eigenen Verlags bieten auch viele andere Verlage auf das System abgestimmte Unterrichtswerke und Literatursammlungen an. Es gibt im ABRSM auch fünf Jazz-Grades und ein spezielles Grading für einen Anfängerunterricht in Gruppen.
Grundschulprogramme
In Deutschland hat sich in den vergangenen zehn Jahren die Kooperation von Musikschulen und Grundschulen ausgeprägt entwickelt. Erste Ansätze für konkurrierende Unterrichtskonzepte sind erkennbar, deren didaktische Grundlagen allerdings nicht immer nachvollziehbar beschrieben sind. Das betrifft insbesondere das Ruhrgebiet: weder JeKi-Ruhr noch das Nachfolgeprogramm JeKits haben irgendeinen Lehrplan oder Kompetenzbeschreibungen veröffentlicht.8
Andere Programme legen sie deutlicher fest: JeKi-Hamburg (aufbauender Instrumentalunterricht in Kleingruppen, Lernzielbeschreibungen, große Jahreskonzerte), das Monheimer Modell MoMo (Musikalische Grundausbildung und Orchestermaterial publiziert, Kompetenzstufen im Instrumentalunterricht), JEKISS (Schulsingen mit Multiplikatorenprinzip, Gesangsfortbildung der Grundschullehrkräfte und Schulchor durch Fachlehrkraft, Repertoire als verbindendes Element), JeKi-Hessen (enge Verbindung mit der Schulmusik) und viele weitere Ansätze zeigen, dass Ziele, Inhalte und Methoden in diesem Feld durchaus unterschiedlich definiert werden.
Unterrichtskonzepte sind in der Musikschulpädagogik sehr wirkmächtig. Die flächendeckende Einführung des Fachs Musikalische Früherziehung in den 1970er Jahren als Reaktion des VdM auf die Yamaha-Pädagogik oder der aktuelle Boom der Bläserklassen sind Beispiele dafür, dass ein gut gemachtes Unterrichtskonzept zu einem Selbstläufer werden und sich gegen andere durchsetzen kann. Auch ein Vergleich mit bestehenden Konzepten aus anderen Bildungsbereichen ist hochinteressant, wie etwa mit dem schon erwähnten „Handlungsorientierten Unterricht“ in der Schule. Denn das ist der große Vorteil einer Denkweise in Unterrichtskonzepten: Konkurrenz belebt das Geschäft!
1 siehe Werner Jank/Hilbert Meyer: Didaktische Modelle, Berlin 102011, S. 314.
2 Die Konzepte verstärken daher „subjektive Theorien“ von Lehrkräften, wie sie von der Unterrichtsforschung beschrieben werden (zum Beispiel in Andreas Helmke: Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität, Seelze/Velber 52014, S. 115). Sie verhindern somit auch Innovation, indem Lehrkräfte sich zu sehr auf einen einzelnen Ansatz beschränken. Neben den vielen Vorteilen ist dies einer der gravierendsten Nachteile solcher Konzepte.
3 Jank/Meyer, S. 305.
4 siehe http://fundamusical.org.ve
5 In der Schulmusik wird der Begriff „Klassenmusizieren“ auch für eine Arbeitsform des regulären Schulmusikunterrichts verwendet, daher hier der Zusatz; siehe Jörg Sommerfeld: Instrumentalunterricht in der Grundschule, Wiesbaden 2014, S. 28.
6 Deutschlandweit könnte es bereits mehr InstrumentalschülerInnen in Bläserklassen geben als in allen JeKi-Derivaten zusammen; siehe Jörg Sommerfeld: „Kompetenzstufenmodelle“, in: üben & musizieren 2/2016, S. 39.
7 siehe www.abrsm.org
8 Selbst das bisherige Unterrichtsmaterial hat kein Lehrerhandbuch, nicht einmal Partituren der gemeinsamen Stücke der Schülerausgaben.