Godau, Marc
Plattformisierung musikalischer Praxis
TikTok als Herausforderung für die Musikpädagogik
TikTok repräsentiert eine vollständig digitalisierte Kultur, in der MusikerInnen nicht mehr nur auf Konzertbühnen oder in Tonstudios agieren, sondern auf algorithmusbasierten Plattformen mit eigenen Logiken und Ästhetiken. Diese Online-Netzwerke sind in Konkurrenz zu Bildungsinstitutionen wie Musikschulen getreten, indem (post-)digitale Kultur traditionelle Vorstellungen von musikalischer Bildung, Kreativität und Professionalität herausfordert.
Medientechnologische Entwicklungen haben stets künstlerische Praktiken mitgeprägt. Tonaufzeichnungen führten z. B. zu einer Vereinheitlichung des Operngesangs, formten den Berufsstand der StudiomusikerInnen und ermöglichten postperformative Praktiken (z. B. Electronic Dance Music), die keine Live-Aufführung benötigen.1 Durch das Fernsehen entwickelten sich Playback und Musikvideos zu festen Bestandteilen musikalischer Medienkultur.
Sind Videos bereits mit YouTube um 2005 Teil einer aufkommenden Internetpraxis von nutzergenerierten Inhalten geworden, so sind spätestens seit 2020 Kurzvideos das neue Leitmedium. Im Zuge dieser Entwicklung begannen MusikerInnen, allein oder als international vernetzte Kollektive ausschließlich für und auf Social-Media-Plattformen Musik zu machen – sie wurden zu Plattform-MusikerInnen.
Algorithmische Hyperawareness und verteilte Kreativität
Im Kontext plattformgeprägter künstlerischer Praxen agieren Algorithmen als undurchschaubare, aber wirkmächtige Blackboxes im Hintergrund. MusikerInnen entwickeln bisweilen ein Gespür und Kompetenz für die Funktionsweisen eines Algorithmus, um sich diesem nicht gänzlich auszuliefern. Dies geschieht vor allem dadurch, dass sie experimentell mit Features umgehen, die Auswirkung ihres eigenen Handelns auf der Plattform nachverfolgen sowie ihre Vermutungen und Erfahrungen mit anderen teilen.2
Mit der Durchdringung des Digitalen hat sich zudem die Vorstellung von Kreativität verschoben. An die Stelle von autonomem Handeln, innerlichem Entscheiden und einer Berufung auf die „Künste“ tritt in ästhetischen Gestaltungsprozessen eine hybride Kreativität3 mit einer verteilten und dezentralen Autorschaft,4 in die auch Algorithmen einwirken. Sichtbar wird dies insbesondere in referenziellen Zitierpraktiken wie Sampling, Remixing oder Memes etc., in denen bereits gedeutetes Material mit neuer Bedeutung belegt wird.5
Der Wellerman-Trend im Jahr 2021 verdeutlichte, dass musikalischer Erfolg nicht mehr einzig auf Institutionalisierung großer Meisterwerke oder der Etablierung von Stars über Verkaufszahlen und Charts basiert, sondern ebenso auf algorithmischer Filterung und gemeinschaftlicher Referenzierung. So lief mit dem Shanty The Wellerman in der Version von Nathan Evans ein Trend an, der zahlreiche Duett- und Ensemble-Videos von Laien wie Profis hervorbrachte.
Verspieltheit und Humor
In digitaler Kultur ist der Bezug zur Welt geprägt von ludischen Elementen wie Vergnügen, Spaß, Erfolg und Handlungsfreiheit, z. B. beim kreativ-entdeckenden „Herumdaddeln“ mit niederschwelligen Musikapps oder -games. Die Ambivalenz dieser Verspieltheit besteht in Partizipationschancen für Menschen ohne formale musikalische Bildungserfahrungen und dem erhöhten Risiko einer Manipulation.
Humor, Slapstick und absurde Formate sind auf TikTok allgegenwärtig. Cringe, Duette und Challenges zählen hier zu den drei häufigsten Genres. Cringe ist gekennzeichnet durch dilettantisch produzierte und hässliche Inhalte und ruft zwar Unbehagen, Fremdschämen oder Beleidigungen hervor, aber steigert offenbar Bindungsbereitschaft wie Vergnügen der Rezipierenden. Cringe wird aber nicht nur von unbeholfenen Laien produziert, die vor Demütigungen geschützt werden müssen. Ebenso setzt dieses Genre einen kritischen Kontrast zu perfekten Inhalten. Dementsprechend dürfen ludische Ausdrucksformen nicht vorschnell abgewertet werden, sondern müssen als Teil authentischer Musizier- und Lernpraxen reflektiert werden.
Authentizität und Amateurismus
TikTok zeigt, wie eine Inszenierung des Alltäglichen zu einem kulturellen Standard geworden ist. Neben den von Laien produzierten Videos hat sich Unvollkommenheit als ästhetisches Prinzip eines kalibrierten Amateurismus6 etabliert. Dabei soll die Glaubwürdigkeit der Creators sowie die parasoziale Beziehung zwischen ihnen und ihrem Publikum gefördert werden, z. B. durch direkte Ansprache, Zeigen von Privatheit, Verzicht auf Filter sowie Einsatz nichtprofessioneller Technologien.7 Das so erzeugte Bild von MusikerInnen als freundliche NachbarInnen gilt als authentisch und konterkariert das wettbewerbs- und karriereorientierte, meisterhaft professionelle Image eines Virtuosentums.8
Plattformisierung des Songwriting
MusikerInnen werden zunehmend zu Content Providers, die Inhalte für Plattformen liefern. Sie gehen unterschiedlich mit den neuen Herausforderungen um: Einige profilieren sich als Berühmtheiten oder BildungsinfluencerInnen mit lukrativen Einnahmen, andere fühlen sich als DienstleisterInnen zur Steigerung von Abos und Traffic entfremdet. In der Folge beanspruchen manche eine Aufrechterhaltung der Autonomie von Kunst oder richten ihre Musik nachträglich an der Plattform aus, um die Wahrscheinlichkeit, viral zu gehen, zu erhöhen. Andere orientieren sich ausnahmslos an der Plattform.9
Im Songwriting lassen sich unter Bands und Solo-Artists zwei Modi einer Bezugnahme auf Plattformen feststellen: TikTok-Sein oder TikTok-Benutzen.10 Beim TikTok-Sein wird Musik auf das Publikum und den Algorithmus abgestimmt, sodass kontinuierlich Songs entstehen, die bisweilen nur einen Formteil A sowie eine Dauer von 15 Sekunden haben. Zudem wirkt das Publikum aktiv mit, indem es kommentiert oder Themen vorgibt. So entstehen z. B. Songs, die auf Kommentaren unter älteren Posts beruhen oder humoristische Zusammenstellungen solcher sind.
MusikerInnen im Modus des TikTok-Benutzens bewerben hingegen eigene Songs mit gekürzten Ausschnitten und prägnanten Stellen sowie in verschiedenen Fassungen: Akustik-Cover, Making-Of-Videos, Lipsyncs, Konzertmitschnitte oder Sketches. Das Publikum wird zum Mitmachen eingeladen, indem es über das Duett-Feature eigene Versionen produzieren soll. So entstehen z. B. Open Verse Challenges, in denen dazu aufgefordert wird, eigene Strophenteile zu ergänzen. Zwar soll das Publikum wie beim TikTok-Sein einen Song häufig aufrufen und als Audio weiterverwenden, aber schließlich von TikTok weggelotst werden, um etwa einer Band auf Spotify zu folgen oder ein Konzert zu besuchen.
TikTok und Musik(hoch)schule
Bildungsinstitutionen wie Musik(hoch)schulen stehen vor der Aufgabe, auf neue Tätigkeitsfelder der Short-Video-Plattformen wie TikTok zu reagieren. Dazu gehört zuallererst die kritisch-würdigende Gleichberechtigung der (post-)digitalen Praktiken und Ästhetiken im Ensemble anderer akademisch etablierterer Kunstformen. Darüber hinaus eröffnen sich kritische Perspektiven auf die Musikpädagogik, die nach knapp 150 Jahren mediatisierter Kunstpraktiken nach wie vor das synchrone Musizieren in gemeinsamer Ko-Präsenz naturalisiert.11 Ansonsten droht die Musikpädagogik zu einer konservativ-anachronistischen Praxis zu werden, die an der Lebenswelt ihrer Zielgruppe vorbeigeht und zur Barriere etlicher kultureller Praxen wird.
Das hier Skizzierte soll Impulse liefern, wie PädagogInnen die Spezifik von Musik in (post-)digitaler Kultur nachvollziehen und aufgreifen können, damit SchülerInnen auch kompetent für ein künstlerisches Wirken auf Plattformen wie TikTok werden.
1 Beispielsweise das Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band (1967) von The Beatles.
2 Godau, Marc/Maxelon, Dominik/Neuhausen, Timo: „Algorithmische Hyperawareness im Songwriting von Plattform-Musiker:innen. Postdigitale Subjektivität und die Transformation musikkultureller Praktiken auf TikTok und Co“, 2025, www.auditive-medienkulturen.de/2025/01/23/algorithmische-hyperawareness-im-songwriting-von-plattform-musikerinnen (Stand: 3.7.2025).
3 Jörissen, Benjamin/Schröder, Karoline/Carnap, Anna: „Postdigitale Jugendkultur. Kernergebnisse einer qualitativen Studie zur digitalen Transformation ästhetischer und künstlerischer Praktiken“, in: Timm, Susanne/Costa, Jana/Kühn, Claudia/ Scheunpflug, Annette (Hg.): Forschung zur kulturellen Bildung, Wiesbaden 2020, S. 61-78.
4 Busi Rizzi, Giorgio: „The Networked Author: Looking at Contemporary Authorship Through Postdigital Comics“, in: ANGLICA – An International Journal of English Studies, 2024, 33 (2), S. 115-141.
5 Stalder, Felix: Kultur der Digitalität, Berlin 2016.
6 Abidin, Crystal: „#familygoals: Family influencers, calibrated amateurism, and justifying young digital labor“, in: Social Media + Society, 2017, 3 (2), S. 1-15.
7 Taylor, Allan S.: Authenticity as performativity on social media, Heidelberg 2022.
8 Jaakkola, Maarit: „Digital performance at the side stage: The communicative practices of classical musicians and music hobbyists on Instagram“, in: Continuum, 2023, 37 (2), S. 296-308.
9 Polak, Nick/Schaap, Julian: „Write, record, optimize? How musicians reflect on music optimization strategies in the creative production process“, in: new media & society, April 2024, DOI:10.1177/14614448241243095.
10 Godau/Maxelon/Neuhausen, a. a. O.
11 Godau, Marc/Gosmann, Phillip: „Liveness-Norm in der Musikpädagogik – warum die Orientierung an Live-Musik kulturelle Vielfalt und Digitalisierung verhindert“, in: SEMINAR, 2024, 32 (1), S. 76-91.
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