Zuther, Dirk

Popmusik aneignen

Selbstbestimmter Erwerb musikalischer Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: transcript, Bielefeld 2019
erschienen in: üben & musizieren 6/2019 , Seite 54

So zweifelsfrei einerseits zutrifft, dass Popmusik wesentlich geprägt ist durch orale Traditionen und selbstbestimmtes Lernen, so erstaunlich ist andererseits, dass die wissenschaft­liche Auseinandersetzung mit dem Phänomen Popmusik noch immer und weitgehend strukturalistischen Kriterien folgt und zudem gleichsam einen Blick von außen (Fokus: Kommerz, massenmediale Verbreitung) anlegt. Dagegen unternimmt Dirk Zuther in seiner Dissertation (Universität Lüneburg) eine Art Innenansicht und legt den Zusammenhang zwischen Popmusik und ihren Aneignungsstrategien offen.
Methodologisch orientiert an Erhebungsverfahren in interpretativer bzw. rekonstruktiver Sozial­forschung wertet die Arbeit umfangreiche Interviews und eine Gruppendiskussion aus (Schwer­punkt: soziale Prozesse und kulturelle Praktiken). Eine erste Teil­studie betont die Bedeutung referenzorientierter Denkweise und Sprache in der Kommunikation über Popmusik (etwa Bezug auf Musikerpersönlichkeiten, Spielweisen, Soundtypen). Da solche Referenzgrößen stetem Wandel unterworfen sind, erscheint insofern die Kennzeichnung „liquide Sprache“ innerhalb des Systems Pop plausibel.
In der anschließenden Haupt­studie werden nach einer klärenden Begriffsdefinition zum „informellen Lernen“ und der Darstellung des Forschungsstands leitfadengestützte Einzelinterviews zur Frage nach Strategien der Aneignung von Popmusik qualitativ ausgewertet. Im Ergebnis zeigt sich ein eigenständiger Kompetenzerwerb in informellen Lernprozessen, womit zugleich eben auch eine spezifische Form musikalischen Lernens belegt ist.
Der abschließende Teil widmet sich dem Themenkomplex „Musikpädagogik und selbsterworbene Kompetenzen“. Gilt doch die Universität Lüneburg als Gründungsort jener Didaktik der populären Musik, die in den 80er Jahren eine Vorreiterrolle in Sachen „Popmusik im Unterricht“ hatte. Das (ausführliche) Interview mit Volker Schütz als einem ihrer Gründungsväter kann da als wichtiges Dokument zur Entwicklung ebendieser Didaktik gelten. Von Anfang an und folgerichtig formuliert der Autor denn auch den Anspruch, mit seiner Untersuchung einen Beitrag zu deren inhaltlicher Weiterentwicklung zu leisten.
Dieser Anspruch indes, so aufwändig die Arbeit auch ist, wirkt überzogen. Denn das umfangreiche Aussagematerial auswertend werden über wenige doch sehr allgemein gehaltene Ergebnissätze hinaus didaktisch stichhaltige Perspektiven kaum geöffnet. Mag sein, dass die Kompilierung wesentlicher Untersuchungsergebnisse eine eigene (Folge-)Veröffentlichung rechtfertigt. Wünschenswert wäre eine solche wissenschaftlich fundierte Handreichung in jedem Fall – ganz im Sinne einer wertschätzenden Praxis im täg­lichen Umgang mit eigenständig erworbenen popmusikalischen Kompeten­zen jugendlicher SchülerInnen.
Gunther Diehl