Bork, Magdalena / Reinhard Gagel

Quo vadis, Teufelsgeiger?

Ein Forschungsprojekt zur Kompetenzerweiterung von MusikerInnen durch Improvisation und ­Reflexion an der Universität für Musik und ­darstellende Kunst Wien

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 4/2010 , Seite 38

Der österreichische Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) hat eine neue Förderschiene etabliert, um speziell das Tun und Forschen im Bereich der Kunst ganz bewusst in den Kanon der traditionellen Wissenschaftsforschung aufzunehmen. Mit dem Programm zur Entwicklung und Erschließung der Kunst (PEEK) wurde 2009 der Rahmen dafür geschaffen, qualitativ hochwertige, innovative Forschung zu fördern, in deren Zent­rum die künstlerische Praxis steht. Seit März dieses Jahres erforscht ein Wiener Team, welche Auswirkungen die Ausübung freier Improvisation in Ausbildung und Berufspraxis auf künstlerische Kreativität, Ausdruckskraft und Selbstbild klassischer MusikerInnen hat. Anlass sind jüngste Erkenntnisse europaweiter Forschung, die eindrücklich aufzeigen, dass ein erfolgreiches und erfüllendes Berufsleben als MusikerIn heute nicht mehr allein auf bester inst­rumentaler Qualifikation basiert. Diese ist mittlerweile geradezu selbst­verständliche Voraussetzung neben einem erweiterten Portfolio aus neuen Kompetenzen und zusätzlichen Fähigkeiten und der Offenheit für ein vielfältigeres Berufsbild.
Mit dem Projekt „Quo vadis, Teufelsgeiger?“, angesiedelt an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, schlägt das Forschungsteam unter der Leitung von Peter Röbke einen ungewöhnlichen Weg ein: Anstatt die in der langen Ausbildung schon erworbenen handwerklichen Fähigkeiten noch weiter auszubauen, schließt das Modell an die ursprüngliche Grundmotivation des mu­sikalischen Tuns an – die individuelle Ausdruckslust der MusikerInnen – und stellt die schöpferische Praxis der Freien Improvisa­tion ins Zentrum des Projekts. In ihrer Doppelfunk­tion als KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen bieten Magdalena Bork, Maria Gstättner und Reinhard Gagel den am Projekt teilnehmenden Musikerinnen und Musikern Improvisationskurse, künstlerisches Einzelcoaching und einen Reflexionsfreiraum an.
Improvisieren ist die ursprünglichste und persönlichste Art und Weise, mit Musik umzugehen. Die Fähigkeit zum Improvisieren gehörte im 18. und 19. Jahrhundert zur Grund­kompetenz eines jeden Musikers. Heute gilt sie bekannterweise als die Musizierart des Jazz. Ausgehend von Free Jazz und Neuer Musik der 1960er Jahre suchten Musiker improvisatorischen Ausdruck und schufen damit die „freie oder nichtidiomatische Improvisation“. Diese Musizierpraxis ist nicht sti­lis­tisch gebunden und zeichnet sich durch ein hohes Maß an experimentellen und innovativ-unvorhergesehenen Spielweisen aus. Die Ausgangsannahme von „Quo vadis, Teufelsgeiger?“ lautet, dass diese Art authentischen Musizierens das Verhältnis der MusikerInnen zu ihrem Instrument und ihrer Musikausübung nachhaltig verändern könnte. Zum einen stärkt Improvisieren die Ausdruckskraft und Kreativität der MusikerInnen, die sich dabei in der meist neuen Rolle als Kunstschaffende erleben. Das Projekt ist auch stark von der Idee getragen, dass die­jenigen InstrumentalistInnen, die sich ihrer musikalischen Identität und ihrer einzigartigen Ausdruckskraft bewusst sind, es möglicherweise einfacher haben, ihren Karrieretraum in eine Traumkarriere zu verwandeln. Zum anderen ermöglicht die Erfahrung improvisatorischer Prozesse einen freieren Umgang mit dem eigenen Instrument und fördert Flexibilität und Wandlungsfähigkeit des musikalischen Handelns.
In der jahrelangen künstlerischen und selbstreflexiven Auseinandersetzung mit der Freien Improvisation haben Reinhard Gagel und Maria Gstättner beobachten können, zu was Improvisation im Solo- und Ensembleprojekt die Teilnehmenden befähigen kann. Ihre sich ergänzenden Ansätze improvisatorischer Ensemblearbeit (Konzept Gagel: Improvisiakum) und unterstützender Einzelarbeit (Konzept Gstättner: Contemporary musician’s awareness) sollen als innovative Art des künstlerischen Arbeitens und Lernens für hochqualifizierte MusikerInnen in der Begabtenföderung, in der Hochschul- bzw. Universitätsausbildung und im Beruf angeboten werden. Es entsteht ein Kompetenzlabor, in dem über einen längeren Zeitraum unterschiedlichste MusikerInnen und Ensembles sowohl kontinuierlich wie auch punktuell in der Praxis des Improvisierens unterstützt werden. Die künstlerischen Früchte dieser Arbeit werden regelmäßig der Öffentlichkeit präsentiert.
Der Forschungsansatz gibt den teilnehmenden MusikerInnen zusätzlich noch einen Freiraum zur reflexiven Auseinandersetzung: Regelmäßige idiolektische Gespräche (Idiolektik ist die Lehre von der Eigensprache; in der idiolektischen Gesprächsführung gelingt es, durch spezifische Fragetechnik authentische Mitteilungen des Gesprächspartners zu erhalten) ermöglichen den MusikerInnen, das praktisch Erlebte ressourcenorientiert zu reflektieren und es in den Kontext ihrer eigenen Musikerwerdung und ihrer Musikerpersönlichkeit zu stellen. Diese idiolektischen Interviews dienen gleichzeitig als wesentliches Evaluationswerkzeug für den qualitativen Forschungsprozess. Die Frage lautet, inwieweit der durch dieses Angebot gewonnene künstlerische Freiraum klassische InterpretInnen dabei unterstützen kann, die vielfältigen Herausforderungen ihrer Ausbildung und ihres beruflichen Alltags auf der Bühne, im Orchester und auf dem freien Markt zu bewältigen.
Das Projekt wird von der Überzeugung getragen, dass der innovative und mutige Kontakt von klassischen Musikern mit freier Improvisationspraxis und prozessbegleitendem Reflexionsraum auch langfristig produktive Früchte tragen kann. Die gründliche wissenschaftliche Erforschung dieses neuen Pfades innerhalb der klassischen Musikausübung könnte Argumente für eine kontinuierliche Improvisationspraxis in der Ausbildung bzw. im Kulturleben bieten. Das Projekt wird mittelfristig konkrete Ideen und Vorschläge für die praktische Integrierbarkeit solcher Lernumgebungen in die Curricula heutiger Musikausbildungsstätten anbieten und diese im Internet und in einem Abschlusssymposium der Öffentlichkeit vorstellen.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 4/2010.

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