Veress, Claudio
Rätselhafte Begleiterin
Zeit in Philosophie und Musik
„Was also ist ‚Zeit‘? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es; will ich einem Fragenden es erklären, weiß ich es nicht.“1 Dieses Verlegenheitseingeständnis des Kirchenvaters Augustinus, niedergeschrieben vermutlich kurz vor 400 n. Chr., ist bis heute bemerkenswert aktuell. Wir äußern täglich unzählige Sätze, die die Zeit zum Gegenstand haben, und meinen stets genau zu wissen, wovon wir sprechen. Aber wissen wir es wirklich, wenn uns jemand um nähere Erläuterungen, gar eine bündige Definition des Begriffswortes Zeit ersucht?
Die folgenden Überlegungen werfen einen Blick auf einige wichtige Stationen der philosophischen Begriffsgeschichte der Zeit mit dem Ziel, Elemente derselben für eine ästhetische Betrachtung der Musik als Zeitkunst fruchtbar zu machen.
Sprachanalytischer Ordnungsversuch
Für eine erste Orientierung kann ein Blick in die sprachanalytische Philosophie hilfreich sein. Ein solcher für die moderne Zeitdiskussion einflussreicher Versuch liegt im Aufsatz The Unreality of Time (1908) des britischen Neu-Hegelianers John McTaggart vor.2 Der Autor unterscheidet darin drei Reihen von Ausdrücken, die er für unsere Zeitsprache für wesentlich hält: eine „A-Reihe“, in der Terme wie vergangen, gegenwärtig und zukünftig vorkommen, eine „B-Reihe“, in der Terme wie früher, gleichzeitig und später auftreten, sowie eine „C-Reihe“, die die Inhalte der A- und der B-Reihe in rein räumlich-statischer, unzeitlicher Form repräsentiert.
Die Positionen der A- und B-Reihe heißen Ereignisse – und diese sind in der A-Reihe jeweils subjekt-relativ angeordnet: So ist mein morgiger Besuch bei meiner Enkelin heute für mich zukünftig, morgen wird er gegenwärtig und übermorgen vergangen sein. Auf dem Zeitstrahl (= B-Reihe) einer Alltagshistorikerin, die sich für großelterliche Besuche bei Enkelinnen interessiert, wird das Ereignis meines morgigen Besuchs dagegen an einer objektiv und definitiv späteren Stelle als meine heutige Äußerung meines Vorhabens verzeichnet werden. Und die C-Reihe versammelt meine Aussage und meinen Besuch als reine Tatsachen N und O in einer unveränderlichen Ordnung, die indifferent gegenüber irgendeiner Richtung der Sukzession (N ➔ O oder O ➔ N) ist.
McTaggart behauptet nun, dass die gemeinhin als objektiv angesehene B-Reihe nichts anderes als die sprachliche und sachliche Resultante sowohl der bedeutungsmäßig vorrangigen, selbst aber nicht weiter herleitbaren A- als auch der ebenso unhintergehbaren C-Reihe sei. Die A-Reihe liefere den Aspekt der gerichteten Veränderung, da sich in ihr ein- und dasselbe Ereignis als 1. künftig, 2. gegenwärtig und 3. vergangen darstelle, die C-Reihe jenen der Permanenz je unterschiedlicher Ereignisinhalte. Aus beidem erst ergebe sich das Gesamtphänomen Zeit.
Diese nüchterne Analyse steckt das Feld des Zeitproblems, wie es sich im Spannungsverhältnis von Geistes- und Naturwissenschaften darstellt, in durchaus relevanter Art ab: Mit der A-Reihe ist nämlich offenkundig unser subjektives Zeit-Erleben, die temporale Innenperspektive unseres Bewusstseinsstroms berührt, da wir uns an Vergangenes erinnern, Gegenwärtiges wahrnehmen, Künftiges antizipieren und darüber hinaus vermittels Reflexion registrieren, dass unser Erinnern, Wahrnehmen und Antizipieren selbst in der Zeit stattfindet; die B-Reihe dagegen betrifft die Zeit, wie sie sich dank periodisch getakteter Uhren als öffentlich messbare darstellt. Die C-Reihe schließlich repräsentiert eine unzeitliche Ordnung jenseits aller Perspektiven. McTaggarts Beweisziel besteht darin, vermittels des doppelten Nachweises einerseits der semantisch-sachlichen Abhängigkeit der B- von der A-Reihe, andererseits des paradoxen Charakters der Letzteren3 evident zu machen, dass die angeblich so objektive physikalische Zeit irreal sei, mit anderen Worten: dass, wenn überhaupt, dann nur die C-Reihe als wirklich gelten könne.
Diese Argumentation ist – wenig erstaunlich – alles andere als unwidersprochen geblieben. Eine ausführlichere Diskussion der Positionen muss hier unterbleiben – interessant für den vorliegenden Zusammenhang ist allerdings die Auslegeordnung der McTaggartschen Reihen und der Stoff, den sie den einerseits natur-, andererseits geisteswissenschaftlichen Zeit-Debatten bis heute liefert. Denn McTaggarts unbestreitbares Verdienst bleibt es, die alltagssprachlichen Verquickungen subjektiver und objektiver Aspekte des Zeitphänomens entflochten zu haben.
1 Augustinus, Aurelius: Confessiones – Bekenntnisse, Buch XI, München 41980, S. 629.
2 McTaggart, John: „Die Irrealität der Zeit“, in: Zimmerli, Walter Ch./ Sandbothe, Mike (Hg.): Klassiker der modernen Zeitphilosophie, Darmstadt 1993, S. 67-86.
3 Dieser zeigt sich darin, dass sich die A-Reihe nur logisch zirkulär definieren lässt: Das Vergangene war zukünftig, das Zukünftige wird gegenwärtig und das Gegenwärtige wird vergangen sein.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2023.