© Britta Meyer

Harding, Helge / Wendelin Bitzan

Raus aus der Opferrolle!

Ein Appell an Musikerinnen und Musiker für berufsständisches Engagement

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 6/2016 , musikschule )) DIREKT, Seite 02

I. Beobachtungen zur aktuellen Situation

Es herrschen besorgniserregende Bedingun­gen für das Musikertum in Deutschland. Der Arbeitsmarkt in der professionellen Musikwirtschaft ist äußerst angespannt: Stellen in Chören und Orchestern sind durch Auflösungen und Fusionen seit Jahren rückläufig. Im Konzertbetrieb stagnieren die Honorare auch für sehr gute Solisten und Ensembles. An den öffentlichen Musikschulen werden bundesweit immer weniger Mitarbeiter fest angestellt. Und an vielen Musikhochschulen leisten schlecht bezahlte Lehr­beauftragte den überwiegenden Teil der Lehre.
Dabei wird weitgehend am gesellschaft­lichen und berufsständischen Bedarf vorbei ausgebildet. Es existieren zu wenige Studienplätze für Musikpädagoginnen und -pädagogen, und auf die Freiberuflichkeit als Standardsituation wird noch immer zu wenig Rücksicht genommen. Die meisten Absolventinnen und Absolventen werden nicht adäquat auf ihr Berufsleben vorbereitet, die gesellschaftliche Nachfrage wird nur unzureichend berücksichtigt. Die ist aber so groß wie nie: Bildung, insbesondere kulturelle Bildung, hat Hochkonjunktur, genauso wie die Nachfrage nach Kultur allgemein.
Musiker, Musikwissenschaftler und Musikpädagogen finden sich leider auch im 21. Jahrhundert in einem überwiegend prekären Gewerbe wieder. Die Existenzgrund­lage der meisten Kolleginnen und Kollegen ist eine patchworkartige Mischung aus kargen Gagen und freiberuflichen Unterrichtshonoraren. Selbst in Festanstellungen sind die Arbeitsbedingungen in der Regel äußerst unflexibel, bedingt durch die Vorgaben des öffentlichen Dienstes. Ein vitales Personalmanagement sucht man fast überall vergebens. Gemessen an den Quali­fikationen unserer Kollegenschaft und un­serer Funktion in Markt und Gesellschaft sind die Vergütungen unangemessen niedrig und zu undynamisch. Der Mangel an Zukunftsperspektiven in unserer krea­tiven Branche ist aus berufsständischer Sicht katastrophal und trägt maßgeblich zur prob­lematischen Situation bei.
Vor diesem Hintergrund sind Unmut, Frust­ration und ein Gefühl der Machtlosigkeit, das wir vielerorts beobachten, mehr als verständlich. Dennoch sind wir der Situation nicht hilflos ausgeliefert. Wir können etwas für unsere Sache unternehmen, indem wir uns für Verbesserungen persönlich engagieren.

II. Politisches, Strukturelles, Grundsätzliches

Aus unserer Sicht ist ein Verständnis für die Zusammenhänge und Abläufe in un­serer Branche Voraussetzung, um unser ­berufliches Umfeld zu durchdringen und nach unseren Vorstellungen gestalten zu können. Noch entscheidender aber ist die Einsicht, dass wir, gemessen an derzeitigen und zukünftigen Herausforderungen, berufsständisch zu schlecht organisiert sind, um effektiv für unsere Interessen eintreten zu können. Wir sind als Berufsgruppe schwach, weil wir praktisch keine Druckmittel haben.
Viele Kolleginnen und Kollegen sind der Meinung, dass die Ursachen für die Missstände vorrangig politischer und administ­rativer Natur sind, dass also die Kultur- und Bildungspolitik der Kommunen, Länder und des Bundes in direkter Verantwortung stehen. Dem stimmen wir grundsätzlich zu – allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Politische und administrative Akteure bewegen sich nicht im luftleeren Raum, sondern sind an bestimmte Handlungsrahmen gebunden, die sich aus ihrer jeweiligen Rolle sowie aus vielfältigen gesetzlichen Bestimmungen ergeben.
Die viel gescholtenen Politiker und Verwaltungsangestellten sind nicht notwendigerweise unsere Gegner, die allesamt keine Ahnung von unserem Metier haben; dieser Darstellung, die in unseren Kreisen zweifelhafte Beliebtheit genießt, möchten wir entschieden entgegentreten. Ein solcher Perspektivwechsel ermöglicht uns, die genannten Menschen als unsere Verbündeten zu sehen, auf die wir angewiesen sind, wenn wir etwas verändern wollen. Akteure in Politik und Verwaltung brauchen in ihren jeweiligen Rollen und Funktionen in vielen Fällen unsere fachliche Beratung, damit sie in unserem Sinne entscheiden und handeln können. Wir sind also keine Opfer, sondern qualifizierte Partner und sollten entsprechend selbstbewusst auftreten. Denn mit uns kann man sich gut darstellen.
Unsere Gesellschaft verändert sich nachhaltig und rasant. Wir stehen in wachsender Konkurrenz zu anderen gesellschaftlich relevanten Bildungs-, Freizeit- und Kulturangeboten. Auch deshalb wird es immer wichtiger, die Bedeutung und die Besonderheiten unseres Metiers und unserer Arbeit gegenüber der Allgemeinheit sachlich und fundiert darzustellen. Dies ist notwendig, um unseren Bedarf an strukturellen Verbesserungen, Personal und finanziellen Mitteln zu legitimieren. Eine zent­rale Frage für Politik und Verwaltung lautet: Was hat die Gesellschaft davon, wenn mehr Steuergelder in einen bestimmten Bereich fließen und nicht in einen anderen? In unserem Fall: Warum soll Geld für Musik und musikalische Bildung aufgewendet werden anstatt für andere Bereiche, die ebenfalls eine gesellschaftliche Relevanz besitzen?
Diese Fragen müssen wir klar beantworten können – denn alle öffentlichen Mittel müssen vor verschiedenen Gremien gerechtfertigt werden, um deren sinnvolle, ausgewogene und wirtschaft­liche Verwendung sicherzustellen, was letztlich auch in unserem Interesse ist. Um diese Mittel bemühen sich aber natürlich auch andere Berufs- und Interessengruppen. Es sind also gute Argumente vonnöten, die auch Menschen einleuchten, die noch nie mit klassischer Musik in Berührung gekommen sind.
Mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen sind normalerweise an neue Aufgaben und Leistungen gebunden. Wir sollten uns also überlegen, welche Aufgabenbereiche wir zusätzlich oder anders als bisher wahrnehmen möchten. Beispielsweise könnten wir die bisherige Trennung zwischen privatem und öffentlich gefördertem Musikunterricht überdenken und das Angebot neu ordnen. Es ist nicht einzusehen, warum eine Leistung wie der Instrumentalunterricht an öffentlichen Musikschulen gefördert wird und an privaten nicht – erst recht, wenn diese Leistungen sogar teilweise von denselben Personen erbracht werden.
Wir sollten dazu übergehen, gesellschaftlich und berufsständisch relevante Leistungen und Qualifikationen in den Mittelpunkt unserer Überlegungen zu stellen. Die Arbeitskonditionen müssen dabei attraktiv sein. Diejenigen Personen und Ins­titutionen, die diese Leistungen am hochwertigsten anbieten können, sollten mit öffentlichen Mitteln gefördert werden. Den Status quo fortzusetzen und weiter öffentliche gegen private Angebote auszuspielen, ist jedenfalls keine zukunftsfähige Lösung. Zudem braucht es im freiberuf­lichen Sektor realistischere Honorarkalkulationen, um den fatalen Unterbietungswettbewerb, der vor allem in Großstädten für immer stärkeren Konkurrenzdruck sorgt, zu stoppen und ein Berufsethos zu entwickeln, das auch ein selbstbewussteres Verhandeln mit Kunden und Vertragspartnern einschließt.

III. Was können wir tun?

Es ist an der Zeit, die nötigen Schritte zu unternehmen, um unsere Berufswelt attraktiver und dynamischer zu gestalten. Eine gute arbeits- und sozialrechtliche Absicherung ist dabei nicht gleichbedeutend mit einer Festanstellung, was ein weit verbreitetes Missverständnis ist. Eine mit guten und doch flexiblen Arbeitsverträgen abgesicherte Existenz in einem dynamischen Arbeitsumfeld ermöglicht den nötigen Raum für die freie Entfaltung von Kreativität und Innovation. Diese brauchen wir mehr denn je, wenn wir dem Reformstau begegnen wollen, dem wir uns gegenüber sehen und der mit jedem Tag drückender wird.
Für den Musikbereich existieren im Vergleich zu anderen Bereichen der sehr vielfältigen Kulturwirtschaft recht viele Organisationen und Verbände. Was zunächst positiv anmutet, ist gleichzeitig ein Prob­lem, da die Vernetzung der verschiedenen, überwiegend ehrenamtlich geführten Organe und eine sinnvolle Bündelung von Kompetenzen und Ressourcen in der Praxis schwer zu organisieren ist. Um zukünftige Entwicklungen in unserem Sinne mitgestalten zu können, müssen wir die bestehenden Verbandsstrukturen professiona­lisieren, modernisieren, dynamisieren und besser vernetzen. Dies gilt auch für die Zu­sammenarbeit von Schulen, Musikschulen und Hochschulen, die aus unserer Sicht auch bundesweit besser koordiniert werden sollte.

Wir sind keine Opfer, sondern ­qualifizierte Partner und sollten ­entsprechend ­selbstbewusst ­auftreten.

Für wichtige, die Zukunft betreffende Themen gibt es faktisch keine Foren oder Gremien. Dabei wäre eine demokratische, berufsständisch organisierte Diskussion erforderlich, um drängende Fragen zu beantworten: Wie stellen wir uns eine zeitgemäße Musik- und Musiklehrerausbildung vor? Wer muss dafür was in welchem Zeitraum leisten? Wie sieht die Musikwirtschaft in zehn, zwanzig oder dreißig Jahren aus, wenn wir so weitermachen wie bisher? Wollen wir das? Falls nicht: Was wollen wir verändern und in welcher Form? Und schließlich: Wie sollen die Reformen finanziert werden?
Um die Weichen für die Zukunft zu stellen, bedarf es verstärkten Engagements. Wir sollten uns möglichst weitreichend in Berufsverbänden, Gewerkschaften und sonstigen Zusammenschlüssen organisieren – nur so kann sich mittel- und langfristig ein professionelles „Standesbewusstsein“ entwickeln, das nötig ist, um sich auf einem komplexen Arbeitsmarkt zu behaupten und zukünftigen Herausforderungen effektiv begegnen zu können. Ein möglicher Schritt zu einem verbesserten Zusammenwirken wäre die Bündelung von kulturellen Organisationen und Verbänden in Landeskulturräten, wie es sie in Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen bereits gibt. Hier wären jedoch stabile Budgets und ­eigenes, angemessen bezahltes Personal ­erforderlich, um ein kraftvolles und unabhängiges Handeln zu ermöglichen. Auf Bun­desebene gibt es bereits den Deutschen Kulturrat, der als Spitzenverband der Bundeskulturverbände auch den Deutschen Musikrat als eine von mehreren Sektionen einschließt.
Denkt man noch weiter in die Zukunft, so wäre die Gründung einer Kammer für Musik anzustreben, also einer berufsständischen Körperschaft öffentlichen Rechts, die unter der Aufsicht von Politik und Verwaltung steht. Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte, Architekten, Steuerberater, Handwerker und viele andere Berufsgruppen verfügen seit Langem über solche Standesvertretungen und profitieren von diesen. Eine Kammer ist juristisch eine „Körperschaft öffentlichen Rechts“ und unterscheidet sich damit von privatrecht­lichen Organisationen wie Verbänden oder Gewerkschaften.
Eine Kammer wäre in der Lage, die berufsständische Selbstverwaltung unter staatlicher Aufsicht sehr viel effektiver und umfassender zu bewältigen, als es die bestehenden Organisationen derzeit leisten können. Sie wäre Ansprechpartnerin für die Kultur- und Bildungspolitik und könnte etwa auch Empfehlungen für zukünftige Ausbildungsinhalte aussprechen, die auf aktuelle Entwicklungen im Kulturleben Bezug nehmen.
Sie könnte aber auch einen Schutz musikbezogener Berufsbezeichnungen erwirken und eine verbind­liche Gebührenordnung für musikalische Dienstleistungen und für Musikunterricht verabschieden.

IV. Kanäle zur Vernetzung

Anfangen müssen wir im Hier und Jetzt. Zur Orientierung haben wir eine Liste von Organisationen und Verbänden zusammen­gestellt, bei denen es möglich ist, sich persönlich einzubringen.

Sofern es in euren Institutionen nicht schon Zusammenschlüsse oder Interessenvertretungen gibt, könnt ihr selbst welche gründen und euch gemeinsam engagieren. Solltet ihr dabei Unterstützung benötigen, möchten wir euch anbieten, uns bei Interesse an einer Zusammenarbeit persönlich zu kontaktieren!