© Maria Busqué_Fotos: Ralf Hiemisch

Busqué, Maria

Regeneratives Musizieren

Einführung in die Resonanzlehre und praktische Körperübungen

Rubrik: Gesundheit
erschienen in: üben & musizieren 6/2022 , Seite 44

Was wäre alles möglich, wenn Sie sich während des Musizierens körperlich erfrischen könnten, anstatt zu ermüden? In diesem Beitrag möchte ich, ausgehend von den Grundgedanken der Resonanzlehre, drei ausgewählte Körperübungen vorstellen, die Sie auf dem Weg zu ei­nem resonanzreicheren Klang bei körperlicher Leichtigkeit begleiten können.

Viel Üben bringt nicht unbedingt viel: Wenn man zu viel geübt hat, hat der Körper darauf ein klares Signal: Verspannungen. Wird das ignoriert, kommt es zu Verkrampfungen. Gibt es immer noch keine Veränderung, setzen Schmerzen ein. Violinist Thomas Lange machte diese Erfahrung im Alter von 20 Jahren: Als junger Violinstudent hatte er sich peu à peu eine Sehnenscheidenentzündung an beiden Armen zugezogen und sah sich 1980 gezwungen, mit dem Geigenspiel aufzuhören.
Es folgten eine Odyssee von Spezialist zu Spezialistin sowie die Beschäftigung mit verschiedenen somatischen Verfahren wie Alexandertechnik, Feldenkrais und Aikido. Die Beschwerden wurden allmählich besser, doch erst, als er sich beim Geigespielen der Resonanz seines Klangs zuwandte, und begann, eine Relation zwischen seiner körperlichen Verfassung und seiner Klangqualität zu erkennen, war er nach eigenen Angaben bald wieder in der Lage, schmerzfrei zu spielen. Er entwickelte daraufhin bis 1990 die sogenannte Resonanzlehre.1

Hintergrund der Resonanzlehre

Die Resonanzlehre geht von einer wechselseitigen Beeinflussung von Bewegung und Klang aus. Ihr Leitsatz lautet: „Je müheloser die Bewegung, desto resonanzreicher der Klang.“ Im Unterschied zu weitaus verbreiteteren Körpermethoden verknüpft die Resonanzlehre die Körperarbeit direkt mit Klang, verschiedenen musikalischen (Ausdrucks-)Mitteln und musikbezogener Emo­tion. Erst ein resonanzreicher Klang vermag tatsächlich Emotionen zu transportieren. Es geht schließlich darum, einen resonanzreichen, offenen Klang und ein immer wieder einmaliges und lebendiges Spiel- und Hörerlebnis zu erzeugen – unabhängig davon, wie viele Stunden wir geübt haben.
Die Resonanzlehre ist kein Selbstzweck, sie ist nicht einmal eine Methode. Vielmehr verhilft sie zu einem besseren Verständnis der Zusammenhänge zwischen Körper, Klang, Raum und Instrument. Dadurch erweitert sich die innere Landkarte: MusikerInnen entwickeln mehr Möglichkeiten und Handlungsspielräume zur künstlerischen Gestaltung.
Die Vermittlung der Resonanzlehre beinhaltet zweierlei. Zum einen werden im Einzelunterricht die sieben Kernprinzipien der angewandten Musikphysiologie – Bewegung, Atmung, Hören, Emotion, Klangqualität, Wahrnehmung und körperliche Verfassung – erforscht. Zum anderen wird dies durch Körperarbeit, die ohne Instrument ausgeübt wird, unterstützt. Durch das tägliche Praktizieren der Übungen stellt sich mit der Zeit eine schwingende, offene Bewegungsqualität im Körper ein: Die Gelenke öffnen sich, die Durchblutung wird angeregt, das Körpergewebe wird elastischer – der Körper bewegt sich in Richtung Regeneration. Erstaunlich ist, dass sich dadurch auch die Klangqualität und die Ausdruckskraft beim Musizieren verbessern. Der Körper ist nun leichter in der Lage, auf das Gehörte zu reagieren und die innere Klangvorstellung zu verwirklichen.
Im Folgenden erläutere ich drei Körperübungen für ein regeneratives Musizieren und einen resonanzreicheren Klang, die Sie vor oder während des Übens einsetzen können. Die Übungen folgen dem physikalischen Gesetz: „Eine Masse lässt sich am leichtesten über ihren Schwerpunkt bewegen.“ Demnach ist unser Körper am leichtesten aus dem Körperschwerpunkt zu bewegen, wobei Teilsegmente des Körpers (z. B. Arm) ebenfalls über ihre Teilsegment-Schwerpunkte (hier: Armschwerpunkt) bewegt werden sollten. Achten Sie darauf, ihr Gewicht bzw. die Gewichtsverlagerung zu spüren. Nutzen Sie die Übungen, um mehr Kontakt zu Ihrem Körper und Ihrer Atmung zu erhalten.

Balancebewegungen im Stehen

Stellen Sie die Füße in schulterbreitem Abstand auf, die Fußsohlen haben die gesamte Zeit vollständigen Bodenkontakt. Der Schwerpunkt des Körpers befindet sich im Unterbauch, im Inneren der Hüfte. Sie können durch Berührung mit der Handfläche vorne am Unterbauch und mit dem Handrücken hinten am Kreuzbein diesen Schwerpunkt besser spüren.
Nun balancieren Sie zunächst von links nach rechts, geführt vom Körperschwerpunkt. Dabei können Sie gerne im Knie nachgeben, jeweils auf der Seite, auf der sich gerade das Gewicht befindet. Anschließend balancieren Sie mit dem gesamten Körper von vorne nach hinten. Bewegen Sie sich danach in die eine Diagonale, dann in die andere. Anschließend kreisen Sie mit dem gesamten Körper, erst in die eine, danach in die andere Richtung. Dabei bewegen Sie sich als Einheit, geführt vom Körperschwerpunkt. Zum Schluss lassen Sie Ihren Körper von selbst in die Mitte kommen. Dabei können Hände und Arme entspannt neben dem Körper hängen. Bleiben Sie stets ein kleines bisschen beweglich und neugierig, wie Ihr Körper sich in Mikrobewegungen von selbst in seine Mitte ausrichtet.
Ausgehend von dieser Übung können Sie direkt ins Musizieren übergehen. Bewegen Sie sich während des Musizierens aus dem Körperschwerpunkt in die erforschten Richtungen und erlauben Sie Ihrem Körper, sich mehr zu bewegen, als Sie es normalerweise würden. Dabei ist entscheidend, dass Sie Ihre Bewegungen vom Klang und nicht von inneren Bewegungsanweisungen leiten lassen, also aus dem Gehörten heraus reagieren. Wenn Sie das anfangs überfordert, führen Sie dieses Experiment zunächst lediglich mit einem Akkord, mit langen Tönen oder einer einfachen Melodie durch. Sie werden merken, dass die Art und Weise, wie Sie den Raum um sich herum wahrnehmen, Ihr Instrumentalspiel oder Ihren Gesang enorm beeinflusst.

Die Wasserpflanze-Übung

Bei der Wasserpflanze-Übung wollen wir nicht mit Schwerpunkten, sondern mit wellenartigen Bewegungen im Oberkörper arbeiten. Sie können sie sowohl im Sitzen als auch im Stehen ausführen. Für die grundlegende Einrichtung des Körpers im Stehen orientieren Sie sich bitte an den Anweisungen aus der ersten Übung. Beim Praktizieren im Sitzen achten Sie darauf, dass der gesamte Oberkörper vom Stuhl getragen wird (nicht an der Kante sitzen). Die Füße sind flächig aufgestellt.
Das Bild einer Wasserpflanze im Ozean suggeriert, dass wir nach unten hin gut verwurzelt sind und nach oben hin frei beweglich. Ich lade Sie ein, in eine sanfte, wellenartige Bewegung zu kommen, die durch die gesamte Wirbelsäule bis in den Kopf fließt. Achten Sie darauf, dass Ihre Atmung dabei ebenfalls frei fließen kann. Geben Sie durch Ihren Körper sanfte, feine, fließende Wellen durch und achten Sie dabei auf die Beweglichkeit Ihres Kopfes.
Sie können jederzeit während des Musizierens diese sehr sanfte Form, mit dem Oberkörper zu schwingen, ausführen und neugierig bleiben, wie diese sich auf Ihren Klang auswirkt, auf Ihren Ideenreichtum, auf Ihre Atmung, Ihr Spielgefühl…

Kiefer lösen – Atmung freigeben

Streichen Sie sanft mit beiden Handflächen an beiden Seiten des Kiefers entlang und lassen Sie dabei ganz sanft Ihren Kiefer aufgehen, während Sie ruhig weiteratmen. Lassen Sie Ihre Kiefer- und Nackenmuskeln sich entspannen und den Kiefer von alleine wieder zurückkommen, langsam und weich. Sie werden merken, dass der Kiefer von sich aus nicht ganz schließt. Stattdessen bleibt er kurz davor stehen, ganz von selbst. Wiederholen Sie diesen Vorgang einige Male, fühlen Sie die Bewegung, nehmen Sie Ihre Atmung wahr. Spüren Sie Ihren gelösten Kiefer in seinem Bereich, wo er von selbst stehen bleibt. Öffnen Sie die Lippen leicht.
Mit diesem Gefühl fangen Sie nun an, Ihr Instrument zu spielen oder zu singen. Versuchen Sie nicht, perfekt zu spielen. Versuchen Sie lediglich, beim Musizieren Ihren gelösten Kiefer zu spüren. Sie haben währenddessen vielleicht erneut die Tendenz, die Lippen und den Kiefer festzuhalten. Lösen Sie dann wieder die Mundpartie. Währenddessen ist Ihr Spiel eventuell gestört, es mag vielleicht falsche Noten geben – aber eventuell spüren Sie auch ein Gefühl von körperlicher Freiheit. Mit der Zeit können Sie lernen, dieses Gefühl in Ihr Spiel zu integrieren. Ein Weg dahin wäre, die Kieferübung jeden Tag vor dem Üben zu wiederholen.

Die Körperarbeit der Resonanzlehre hat gesundheitsförderliche und -erhaltende Vorteile, da Bewegungen aus den Schwerpunkten Kraft besser übertragen können und einen freien Atemfluss sowie die Selbstorganisation des Körpers begünstigen. In der Resonanzlehre geht es nicht primär darum, entspannt zu spielen. Vielmehr geht es um die Fähigkeit, die Körperspannung dem musikalischen Kontext angemessen frei verändern zu können. Entscheidend dabei ist, dass wir uns in unseren Bewegungen vom Klang leiten lassen. So kann die körpereigene Intelligenz ohne bewusste mentale Bewegungssteuerung übernehmen und ein „Entstehen lassen“ von Musik ermöglichen.

1 Weitere Informationen unter www.resonanzlehre.de, meiner Website www.mariabusque.net sowie in meinem Buch: Alles im Flow? Die Kunst, ein musikalisches Leben zu führen, Wißner, ISBN 978­-3-­95786-­325­-6.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 6/2022.