Kenan Tülek © Torsten Redler

Herbst, Sebastian

Regionale Unterschiede

Gespräch mit Kenan Tülek zur Rolle von Repertoire für das Bağlama-Spiel

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 2/2023 , Seite 22

Kenan Tülek ist Dozent für transkulturelle Musikpädagogik im Welt­musik-Studiengang der Popakademie Mannheim, Gründer der Musikschule „Bağlama Atelier Mannheim” und Autor von zwei Bağlama-Lehr­werken.1 Auf der Grundlage seiner vielfältigen Erfahrungen geht er der Frage nach, welche Rolle dem Bağlama-Repertoire an Musikschulen und Hochschulen sowie in Lehrwer­ken und Wettbewerben zukommt.

Lieber Herr Tülek, Sie haben zunächst autodidaktisch mit dem Bağlama-Spiel begonnen, bevor Sie durch Unterricht in verschiedenen Kulturzentren einen Einblick in die traditionelle anatolische Volksmusik erhalten haben. Anschließend studierten Sie an der Codarts Rotterdam University for Arts und an der Istanbul Teknik Üniversitesi. Welche Rolle spielte an den einzelnen Stationen die Auseinandersetzung mit bestimmten KomponistInnen und Stücken?
Zunächst habe ich Lieder durch Hören von Kassetten nachgespielt. Dabei habe ich mich mehr auf Deyiş-Repertoire2 fokussiert, da mein Vater zuhause auch überwiegend Deyiş gespielt hat. Ich habe dann aber bemerkt, dass die Lieder von anderen SchülerInnen im Kulturzent­rum doch anders gespielt wurden. Sie haben es nach Noten gespielt und bestimmte Noten verziert – es klang schöner. Ich habe mich daher dazu entschieden, einen Kurs zu besuchen und Noten zu lernen. Durch den Besuch des Kurses habe ich die Musik anderer Regionen und damit andere Repertoires, Spieltechniken und unterschiedliche Linke-Hand-Positionen entdeckt. 2009 habe ich dann auf Kreta den Meister Erdal Erzincan kennengelernt, der dort einen einwöchigen Workshop für Fortgeschrittene gab und mich sehr inspiriert hat. Im Workshop haben sich mein Repertoire und meine Technik weiterentwickelt und ich entschied mich durch die Motivation von Erdal Erzincan zu studieren. In meinem Studium an der Codarts Rotterdam University war ich dann herausgefordert, einerseits die bekannten traditionellen Stücke zu lernen, aber andererseits auch, meinen eigenen Stil zu finden. An der Istanbul Teknik Üniversitesi habe ich mich mehr auf Langhals-Bağlama sowie auf die kleinste Form der Bağlama-Familie „Cura“ fokussiert und Stücke aus verschiedenen Regionen gelernt, die man damals nicht in Büchern finden konnte.
Mittlerweile findet man viele Stücke, wenn auch nicht alle, in Büchern. Und wenn SchülerInnen ein Stück lernen möchten, das nicht in gedruckten Ausgaben zu finden ist, können sie es meist im Internet finden. Ob es hundertprozentig richtig notiert ist, ist eine andere Frage. Die Möglichkeit, nach Noten zu spielen, hatten wir anfangs nicht; und ich kann mich sehr gut erinnern, wie ich die Kassetten immer wieder gestoppt und abgespielt habe, um neue Stücke über das Hören zu lernen. Das ist für die Gehörbildung sehr wichtig. Man sollte jedoch alle möglichen Quellen nutzen, um sich weiterzuentwickeln.

Lässt sich ein Kanon von Werken, Stücken oder Liedern ausmachen, den Bağlama­-SpielerInnen auf dem Weg zu professionellen MusikerInnen kennengelernt und gespielt haben sollten?
Die Bağlama ist ein Soloinstrument, in der Tradition jedoch ein Begleitinstrument zur Stimme. Mit Blick auf die Funktion als Soloinstrument gibt es einige Stücke, mit denen man sich unbedingt beschäftigen sollte. Dazu gehören für AnfängerInnen meines Erachtens Stücke wie z. B. Uzun Ince Bir Yoldayım, Üsküdar’a Gider Iken und Arıx, für leicht Fortgeschrittene z. B. Kıyılı Halayı, Memberi, ­Bugün Bize Pir Geldi und für Fortgeschrittene beispielsweise Deli Derviş, Azeri Oyun Havası, Kaytagı, Ötme Bülbül und Haydar Haydar. Die Stücke eignen sich, um beispielsweise Positionswechsel, Anschlagtechniken für die rechte Hand und unterschiedliche Makams, also Tonleitern zu lernen.
Im Gegensatz zu vielen traditionellen Stücken für die Bağlama als Begleitinstrument gibt es nur sehr wenige rein instrumentale Stücke und diese wurden bis in die 1980er Jahre auch sehr wenig gespielt. Erst ab den 1980er Jahren nahmen instrumentale Stücke im Repertoire der Bağlama durch Bağlama-SpielerInnen wie z. B. Arif Sağ oder Talip Özkan eine wichtigere Rolle ein. Allerdings sind auch dies wieder, bis auf einige Ausnahmen, überwiegend traditionelle Stücke mit Text, die man instrumental gespielt hat. In der Regel hat eine Solistin oder ein Solist das Stück entwickelt bzw. ausgebaut, einige Passagen ergänzt, es mit einer anderen Technik oder in einer anderen Positionslage gespielt. Ein sehr gutes Beispiel dafür ist das Stück Şeker Oğlan, das der Meister Arif Sağ ausgehend vom traditionellen Lied mit Gesang weiterentwickelt hat. Eigens für die Bağlama komponierte Stücke entstanden erst in den 1990er Jahren. Zu den wichtigsten KomponistInnen zählt der Meister Erdal Erzincan, der mich und viele andere inspiriert hat.

Nun unterrichten Sie selbst Bağlama – unter anderem an der Popakademie Baden-Württemberg – und haben Lehrbücher für das Bağlama-Spiel geschrieben. Welche Bedeutung geben Sie dem Repertoirespiel in diesen Tätigkeiten?
Es gibt für die Bağlama, wie für jedes Instrument auch, ein gemeinsames „klassisches“ Repertoire. Eine besondere Rolle spielen hier jedoch die regionalen Unterschiede in der Türkei, da es in fast jeder Region eine eigene Spieltechnik, Bağlama-Form und Bağlama-Stimmung gibt. Zum Kennenlernen der jeweiligen Regionen und KomponistInnen oder SammlerInnen von Quellen sowie auf dem Weg zur Beherrschung der Technik ist die Beschäftigung mit unterschiedlichem Repertoire wichtig. Auch für das Zusammenspiel ist die Kenntnis und Beherrschung eines bestimmten Repertoires von „klassischen“ Stücken wie Uzun Ince Bir Yoldayım von Aşık Veysel wichtig. In den Lehrbüchern, die ich geschrieben habe, habe ich daher vor allem darauf geachtet, dass Stücke aus allen Regionen vertreten sind und die meistgespielten Spieltechniken erklärt werden.

Sie kennen sicher den VdM-Lehrplan für Bağlama. Dort finden sich im Literaturverzeichnis neben Hinweisen zu Schulen und zum Übungsmaterial einige Stücke, die zur Behandlung im Rahmen der Unterstufe, den Mittelstufen und der Oberstufe vorgeschlagen werden. Auf diese Weise wird im Grunde auch ein Vorschlag für ein Repertoire vorgelegt. Wie beurteilen Sie diesen Vorschlag?
Ich schätze die Arbeit zum Lehrplan sehr, denn das war eine Pionierarbeit für die Bağlama. Das vorgeschlagene Repertoire wurde durch das Wissen und die Erfahrung von mehreren Lehrenden, vor allem aus Nordrhein-West­falen, bestimmt und das zusammengestellte Repertoire kann ich nur bestätigen. Allerdings gibt es auf der Bağlama über 20 verschiedene Stimmungen, wobei die Bağlama-Stimmung sowie die Bozuk-Stimmung am meisten benutzt werden. Ich hoffe sehr, dass man auch einen Lehrplan für andere Stimmungen wie Bozuk, Müstezat, Misket etc. entwickelt.

Welche Rolle spielt Repertoirespiel in Wettbewerbs- und Prüfungsformaten, beispielsweise für Aufnahmeprüfungen, Prüfungen im Studium, Probevorspiele oder Wettbewerbe?
Natürlich ist Repertoirespiel auch in Bağlamaprüfungen und -wettbewerben wichtig. Viel wichtiger sind jedoch die Techniken sowie das Singen, das in der Tradition eine wichtige Rolle spielt. Je nach türkischer Re­gion können sich die Größe der Bağlama, die Spieltechnik und die Stimmung ändern, wobei es allerdings zwei Grundtechniken gibt: Zum einen das Spiel mit Plektrum (Tezene) und zum anderen das Spiel mit offener Hand und den Fingern (Şelpe). Das Spielen mit Plektrum ist deutlich verbreiteter als die Şelpe-Technik. Die Beherrschung beider Techniken spielt eine größere Rolle in den Wettbewerbs- und Prüfungsformaten als das Repertoirespiel.

Welche Rolle sollte dem Diskurs zu einem Bağlama­repertoire künftig zukommen? Würden Sie sich wünschen, dass ein von FachkollegInnen anerkanntes Repertoire aufgebaut und (z. B. in Büchern) festgeschrieben wird, an dem man sich orientieren kann? Wäre der Aufbau eines Repertoires in Analogie zum Repertoire „klassischer Musik“ mit Blick auf den Unterricht und den Konzertsaal Ihrer Meinung nach hilfreich?
Ich wünsche mir sehr, dass so ein anerkanntes Repertoire aufgebaut wird. Es würde die Arbeit von Lehrenden sowie SchülerInnen im Kontext von Unterricht sowie bei der Vorbereitung auf Konzerte und Wettbewerbe deutlich erleichtern. Auf diese Weise muss sich der Lehrer nicht jedes Mal überlegen, was er im Unterricht mit den Lernenden machen sollte, da das Repertoire in einem Buch geordnet nach Schwierigkeitsgrad zur Verfügung stehen würde – z. B. Repertoire für AnfängerInnen, leicht Fortgeschrittene, Fortgeschrittene. Und auch die SchülerInnen erhalten so bereits einen Einblick auf das nächste Stück als nächstes Ziel und können sich darauf vorbereiten. Das kann die Lernenden meines Erachtens motivieren. Tatsächlich plane ich so eine Ausgabe seit einigen Jahren. Auch für die Teilnehmenden bei „Jugend musiziert“ wäre das sehr hilfreich, da viele nicht wissen, was sie dort spielen sollen.

1 Tülek, Kenan: Bağlama spielen – Die Şelpe-Technik. Die einfache Methode für den modernen Unterricht, mit CD, hg. von der Popakademie Baden-Württemberg, Mainz 2018; Tülek, Kenan: Bağlama spielen – Die Tezene-Technik. Die einfache Methode für den modernen Unterricht, mit Online-Material, hg. von der Popakademie Baden-Württemberg, Mainz 2020.
2 Bei „Deyiş“ handelt es sich um eine bekannte Form ­eines Volkssänger-Repertoires, das aus Liedern in Gedichtform besteht.

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