© Artem Bruk

Splett, Luisa Sereina

Reise in die eigene Vergangenheit

Reflexionen über meine Erlebnisse als Klavierschülerin

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2017 , Seite 24

Als Kind erlebt man gewisse Dinge sehr klar – andere ­wiederum bleiben nur bruchstückhaft in Erinnerung. Beim Schreiben dieses Artikels wurde mir immer ­wieder bewusst, wie subjektiv diese Erinnerungen und Ansichten sind. Trotzdem ist es interessant, sich zu fragen, was das für besondere Momente sind, die in Erinnerung bleiben: Warum haben es gewisse Informationen geschafft, immer noch präsent zu sein?

Anfänge – Winterthur

Ich wuchs in einer Musikerfamilie in Winterthur in der Schweiz auf. Mein Vater war zweiter Konzertmeister im Sinfonieorchester der Stadt Winterthur und unterrichtete am Konservatorium, meine Mutter war Sängerin und Musikpädagogin am Lehrerseminar in Zürich. Meine früheste Kindheit – schon im Bauch meiner Mutter – war geprägt von klassischer Musik. Auf Fotos sehe ich, dass mein Vater mich mit seiner Geige in den Schlaf gespielt hat, meine Mutter hat mir vorgesungen.
Ich war ein sehr lauffaules Baby und konnte singen und sprechen, lange bevor ich gehen lernte. Meine erste Erinnerung überhaupt ist, dass ich mit knapp zwei Jahren meinem Bruder kurz nach dessen Geburt ein Schlaflied vorgesungen habe: Bajuschki, Baju.
Sobald ich groß genug war, um die Tasten des Flügels zu erreichen, spielte ich darauf herum. Den ersten Unterricht erhielt ich mit knapp fünf Jahren an der Musikschule in Winterthur – ein Unterricht, der auf Gehör und Notenlehre gleichzeitig aufbaute. Ich spielte Kinderlieder, malte, improvisierte und empfand das Klavierspiel nie als Pflicht oder Stress, sondern immer als Spiel. Gleichwohl kann ich mich erinnern, dass meine Eltern Wert darauf legten, dass ich jeden Tag übte – das gehörte einfach zu meinem Tagesablauf. Dass ich besonders begabt war, merkte ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Das Klavierspiel war für mich wortwörtlich ein Spiel, ein Ausprobieren auf Tasten.
Ein bekannter Klavierprofessor des Konservatoriums ­Zürich kam, als ich ein paar Monate Unterricht hatte, zu uns nach Hause. Ich sollte ihm etwas vorspielen – sozusagen eine Konsultation unter Musikerkollegen. Ich erinnere mich genau daran, weil ich überhaupt nicht nervös war. Ich war mir nicht bewusst, dass dies eine ernste Vorspiel-Situation war. Trotzdem kann ich mich an das Gefühl erinnern, als ich merkte, dass es meinem Vater wichtig war, dass ich gut spielte. Es war etwas, das ich zu diesem Zeitpunkt nicht verstand: Warum sollte er sich sorgen um etwas, das für mich zu dieser Zeit etwas so Selbstverständliches war? Seine projizierte Besorgtheit blieb mir viel mehr im Gedächtnis als das Urteil des ­renommierten Pianisten: In zehn Jahren würde er mich unterrichten, bis dahin solle das Mädchen so weitermachen wie bisher.
Diese Konsultation hatte ein übles und ein gutes Nachspiel: Mein Lehrer an der Musikschule fasste sie als persönliche Beleidigung seines Unterrichts auf, und so wechselte ich innerhalb der Musikschule zu der Lehrerin, deren Unterricht mich bis heute prägt. Ich verstand zu diesem Zeitpunkt nicht, warum ich zu einem anderen Lehrer wechseln sollte – ich war sechs Jahre alt und konnte nur die Spannung zwischen meiner Mutter und meinem Lehrer spüren, wenn sie mich zum Unterricht begleitete. Dieselbe Spannung fühlte ich auch in der ersten Stunde bei der neuen Lehrerin: Es war ein Sich-Herantasten und Beäugen.
Ich denke heute oft über die Dreiecksbeziehung Eltern-Schüler-Lehrer nach. Jetzt stehe ich auf der Lehrerseite und versuche, die Kinder zu unterrichten und dabei ein offenes Ohr für die Eltern zu haben. Wie es auf der ­Elternseite aussieht, die ihrem Kind den best­möglichen ­Instrumentalunterricht ermöglichen wollen, kann ich bisher nur erahnen. Als Kind bekam ich nur mit, wenn etwas in dieser Beziehung nicht klappte. Solange alles in Ordnung war, dachte ich nicht weiter darüber nach.
Ich empfand meine Klavierlehrerin als eine enorm wichtige Bezugsperson in meinem Leben. Jede Klavierstunde war ein Erlebnis. Viele Dinge, die ich damals so mochte, mache ich auch heute mit meinen Schülerinnen und Schülern:
– Bilder malen und dazu improvisieren, also auf dem Klavier Geschichten erzählen;
– Stücke, die man gut beherrscht, aufnehmen, sozusagen zum Abschließen der Arbeit an dem Stück;
– mit anderen Schülerinnen und Schülern zusammen in Ensembles spielen.
Außer ihrem Unterricht mochte ich an meiner Klavierlehrerin ihr krauses Haar, ihre Buntstifte, ihre Schrift und ihren Walkman, mit dem ich das aufgenommene Stück jeweils nochmals anhören durfte.
Meinen ersten Auftritt hatte ich mit sieben Jahren anläss­lich einer Flügel-Ausstellung. Ich war überhaupt nicht aufgeregt, sondern fand es einfach nur toll zu spielen. Dieses Gefühl blieb, bis ich ca. zwölf Jahre alt war. Das erste Mal mit Orchester spielte ich mit neun Jahren. Meine Lehrerin war mit einem Geiger des Stadtorchesters verheiratet. Sie organisierte für mich einige Musiker, die mich bei einem Musikschulvorspiel begleiteten. Es war enorm aufregend für mich, ein Haydn-Konzert mit Begleitung zu spielen. Ich erinnere mich: Vor dem Konzert fühlte ich mich so glücklich, dass ich vor Freude auf der Straße tanzte. Während des Spiels war ich gar nicht nervös und mochte die schnellen Läufe. Worum ich mich eher sorgte, war, ob ich auf dem Saum meines neuen Kleides sitzen oder diesen über den Stuhl stülpen sollte.
Meine Lehrerin konnte bei dem Konzert nicht dabei sein. Sie berichtete mir in der ersten Stunde nach dem Konzert, ihr Mann hätte ihr gesagt, der dritte Satz sei zu schnell gewesen. An diese Kritik kann ich mich viel besser erinnern als an das Lob aller Zuschauer nach dem Konzert, zumal ich mir überhaupt nicht bewusst war, etwas falsch gemacht zu haben…
Zusammen mit meinem kleinen Bruder Valentin hörte ich viele Kassetten über das Leben der Komponisten. Mit unseren Eltern hörten wir Opern auf alten Schallplatten, die wichtigsten Themen spielte uns Papa dann immer noch auf der Geige vor. Außer Klavier und Geige zu spielen, sangen wir zwei Geschwister auch im Kinderchor, später im Jugendchor. Wir musizierten, seit ich den­ken kann, zusammen. Mit ungefähr acht und zehn Jahren gründeten wir unser erstes Klaviertrio zusammen mit einer Klassenkameradin von Valentin. Die Trioproben leitete unser Vater.
In verschiedenen Formationen nahmen wir auch an Wettbewerben teil. Allerdings spürte ich da immer eine gewisse Skepsis. Hauptsächlich lag das wohl wieder an diesem Gefühl, das von den Erwachsenen ausging: diese gewisse Besorgtheit, dass etwas besonders gut klappen sollte. Gleichzeitig gab es auch immer Unannehmlichkeiten hinter der Bühne, Gerüchte über Verbindungen von anderen Lehrern zu Jurymitgliedern, Starallüren von anderen Kindern und deren Lehrern und Eltern. Beim Schreiben fällt mir auf, wie stark sich Empfindungen und Gefühle von Erwachsenen auf die Kinder übertragen.
Musik war in meiner Kindheit nicht vom Alltagsleben zu unterscheiden – sie gehörte dazu wie die Schule auch. Da ich nie viel Hausaufgaben zu erledigen hatte, konnte ich auch genug üben. So durchlebte ich meine Kindheit und verdrängte meine Außenseiterrolle in der Schule durch Lesen und Musik.

Teenager-Zeit – Winterthur, Rancagua

Mit dem Eintritt ins Gymnasium und Teenageralter verschwand meine Unbeschwertheit. Andere Dinge rückten in den Vordergrund. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich vorspielte – und machte prompt Fehler. Ab diesem Zeitpunkt waren die Vorspiele anders, aber irgendwie empfand ich sie trotzdem nie als Last oder extrem negativ. Es kam einfach Nervosität dazu. Als ich 15 Jahre alt war, fand meine Lehrerin, dass es an der Zeit sei, einen anderen Lehrer zu suchen. Und so kam ich zu einem Hoch­schullehrer, der mich trotz meines jungen Alters unterrichtete. Der renommierte Professor, der mich als Kind gehört hatte, war unterdessen ins Ausland gezogen.
Mit 15 kam ich also zu einem Lehrer, der sonst Studierende unterrichtete, selbst aber noch ziemlich jung war. Bei ihm wusste ich nie, woran ich war, ob er fand, dass ich gut spielte oder schlecht… Natürlich vermisste ich in seinem Unterricht die Herzlichkeit und Verbundenheit, die ich bei meiner Lehrerin genossen hatte. Andererseits ging es bei ihm immer um die Sache der Musik, um eine sichere Technik. Sein Unterricht war gut und solide.
Mit 16 durfte ich ein Austauschjahr in Rancagua (Chile) verbringen. Dieses Jahr war von allem anderen als Musik geprägt, so unzählig viele Eindrücke, Erlebnisse, Erfahrungen stürzten auf mich ein. Es gab damals (1999/ 2000) noch kaum Internet, sodass ich während dieses Jahres mit meinen Eltern einmal im Monat telefonierte und ansonsten Briefe schrieb. Ich nahm auch Klavier­unterricht, ­übte auf einem geborgten Keyboard, spielte auch einige Male vor. Aber da gab es viel wichtigere Dinge, z. B. Jungs, Ausgehen, Tanzen. Mein Klavierlehrer in diesem Jahr war an der lokalen „casa de la cultura“ angestellt. Ich vermute im Nachhinein, dass er mir eigentlich nicht viel beibringen konnte, aber er war sehr herzlich und motivierte mich, immer zu üben und dranzubleiben.
Es ist eigenartig, dass ich mich an keine einzelne Klavierstunde erinnern kann, auch an keine Methoden oder Begebenheiten in seinem Unterricht. Ich entsinne mich, wo der Unterricht stattfand, wo das Klavier im Raum stand und wo der Lehrer saß. Wahrscheinlich war nichts an diesem Unterricht besonders schlecht oder gut, sonst könnte ich mich besser daran erinnern. Es gehörte zu meinem Wochenplan, zweimal in die Klavierstunde zu gehen, und ich mochte meinen Lehrer – und das war es. Sehr wohl weiß ich aber, dass ich erstaunt war, dass es in einer Großstadt nur einen einzigen Flügel gab. Der stand nicht in der Musikschule, sondern im Rathaus und wurde nur für Schülerkonzerte genutzt.
Ich fühlte mich in der chilenischen Kultur wohl wie ein Fisch im Wasser. Als das Jahr zu Ende ging und ich zurück in die Schweiz reisen musste, war ich todunglücklich und wollte nichts, als sobald wie möglich wieder zurückzukehren. Ich überlegte, Ethnologie oder Soziologie zu studieren. In der Schweiz fühlte ich mich eingeengt, mein Umfeld fand ich spießig und kalt. Mein Klavierlehrer in Winterthur nahm mich wieder in seine Klasse auf. Wenn ich mir überlege, wie ich damals zu ihm in den Unterricht kam (farbige Nägel, selbst gefertigte Schlaghosen, Hemden von meinem Vater, Ringe, etc.), muss ich ihn für seine Geduld bewundern. Er mischte sich nie in mein Leben ein, aber es kam deshalb auch selten zu einem ermutigenden Kommentar oder Ähnlichem. Eigentlich wusste ich ja nicht, was ich mit meinem Leben nach dem Abitur anfangen sollte. Bei ihm war das Klavier Mittelpunkt im Unterricht, Teenagersorgen blieben draußen. Ich kann im Rückblick auf diese Zeit nicht mehr sagen, ob das damals für mich gut oder schlecht war. Tatsache war, dass ich selbst entscheiden musste, wie es weitergehen sollte.

(Jung-)studentin – Winterthur, Zürich, Santiago de Chile

Kurz nach meiner Heimkehr fragte mich der Leiter des Schulorchesters in Winterthur, ob ich nicht mit dem Orchester als Solistin auftreten wolle. Ich spielte das Beethoven-Rondo WoO6, das von Czerny aufgepeppt worden ist, und konnte mit dem Orchester eine Ungarnreise unternehmen und durch die Schweiz touren. Daraufhin beschloss ich, die Aufnahmeprüfung am Konservato­rium in Zürich als Jungstudentin zu versuchen. Für mich war das ein Test: Würde ich es schaffen, wollte ich eine Ausbildung zur Pianistin in Angriff nehmen, wenn nicht, dann eben nicht. Dass es für mich ein Scheideweg war, erzählte ich aber niemandem.
Mein Lehrer sah dem Ganzen mit Skepsis entgegen. Er selbst konnte bei der Prüfung nicht anwesend sein und er wusste nicht, ob ich vor seinen strengen Kollegen bestehen würde. Der Tag wurde für mich wichtig, gerade auch wegen der Absenz meines Lehrers – nun wollte ich auf mich allein gestellt erst recht beweisen, dass ich es schaffen würde. Ich bestand mit Auszeichnung, also war die Entscheidung gefallen.
Nach der Prüfung merkte ich zum ersten Mal nach über zwei Jahren, dass mein Lehrer sehr wohl etwas von mir als Pianistin hielt: Vor der nächsten Unterrichtsstunde stellte er mich einer Mitstudentin vor, samt lobenden Worten über meine Prüfung. Seine Anerkennung war so selten wie seine Kritik. Ich erinnere mich, dass ich ihn in einem späteren Jahr meines Studiums darauf ansprach und ihn bat, mir mehr Feedback zu geben. Es sei für mich schwierig, stets zu versuchen, zwischen den Zeilen zu lesen, was er wohl über meine Leistung denken möge. Er fiel auf diese Bemerkung hin aus allen Wolken, da er sich das offensichtlich gar nicht überlegt hatte. Auch bei anderen Lehrern in anderen Ländern erfuhr ich immer wieder, wie mühselig es war, ohne konkrete Rückmeldungen zu arbeiten. Wenn ich nach einer Woche stundenlangen Übens in den Instrumentalunterricht ging, erwartete ich irgendwie einen Kommentar zu meiner Arbeit.
Nach dem Abitur kehrte ich wieder nach Chile zurück, um ein Jahr an der chilenischen Universität in Santiago zu studieren. Mein Studienplatz am Konservatorium in Zürich blieb mir erhalten. Eine schreckliche Lehrerin unterrichtete mich in diesem Jahr in Santiago. Wahrscheinlich fand sie mich mindestens so schrecklich wie ich sie. Sie versuchte, alle technischen Probleme mit einer einzigen Methode auszumerzen: transponieren. Anfangs fand ich das noch interessant, aber nach einer Weile leuchtete mir das überhaupt nicht mehr ein.
Ich wohnte mit meiner Gastschwester des Austauschjahres (Schauspielstudentin) und einer Freundin (Filmstudentin) zusammen. Die Partys in unserer WG gehörten beinahe zur Tagesordnung. Mein Kleidungsstil wurde jeden Tag extravaganter, meine Klavierlehrerin immer schnippischer. Trotzdem übte ich viel und spielte Kammermusik, unter anderem bei einer uralten Dame, die eine persönliche Freundin von Claudio Arrau gewesen war. Sie konnte mich motivieren, denn sie war wohlwollend und liebte die Musik über alles, was sich auf ihre Studentinnen und Studenten übertrug. Partys hin oder her, für mich war ab diesem Jahr klar, dass ein Leben ohne Musik keine Option für mich sein würde. Ich lebte in der Musik, durch meine Adern floss Musik, der Instrumentalunterricht war „Mittel zum Zweck“: Durch ihn konnte ich meine Technik verbessern, mein Repertoire erweitern und immer mehr die Werke spielen, die ich auch spielen wollte.
Nach einem Jahr musste ich wieder in die Schweiz, um in Zürich meine Studien wieder aufzunehmen. An den Wochenenden arbeitete ich als Kellnerin, ich hatte auch Nebenjobs als Bürohilfe und verteilte sogar als Handy verkleidet Flyer in der Stadt, denn ich wollte zurück nach Chile. 2004 schaffte ich die Übertrittsprüfung in die Konzertausbildung, beschloss aber trotzdem, die Ausbildung in Chile fortzusetzen. Da ich nicht zurück zur Klavierlehrerin wollte, die ich erlebt hatte, schrieb ich mich an einer anderen Universität in Santiago de Chile bei einer russischen Klavierlehrerin ein. Diese öffnete mir eine neue Tür aus pianistischer Sicht, indem sie meine Aufmerksamkeit ganz und gar auf den Klang lenkte. Sie war herzlich, aufgeschlossen, opti­mistisch und hatte ein offenes Ohr für mich – wie auch für alle anderen Studierenden.
Ich bewunderte sie als Frau, Pianistin und Lehrerin und vertraute ihr voll und ganz. Auch der Methodikunterricht fand bei ihr statt. So lernte ich die russische Klavierschule in Chile kennen. Russische Gründlichkeit bei Erlangen von Technik zusammen mit südamerikanischer Leichtigkeit des Seins – das schien mir eine gute Kom­bination zu sein. Ich fing selbst an zu unterrichten, wurde bald Assistentin meiner Lehrerin und auch anderer ­Klavierdozenten an der Uni und arbeitete von früh bis spät.

Aspirantin – St. Petersburg

Gegen Ende des Studiums empfahl mir meine Lehrerin, ihrem ehemaligen Professor in St. Petersburg vorzuspielen, damit er mir Tipps zu einem weiterführenden Stu­dium geben könne. Ich fuhr im Juli 2006 zu ihm. Mir gegenüber blieb der Professor höflich distanziert, auch nach der über vier Stunden dauernden Klavierstunde (für die er auf gar keinen Fall auch nur einen Euro annehmen wollte). Seiner ehemaligen Schülerin, meiner Lehrerin, gegenüber sagte er jedoch, dass er mich in seine Konzertklasse aufnehmen wolle. Also flog ich nach meinem Abschluss in Chile im Februar 2007 nach St. Petersburg, um mich innerhalb von vier Monaten auf die Aufnahmeprüfung vorzubereiten und Russisch zu lernen, was Pflicht war für die Prüfung.
Die Umstellung von Südamerika nach Russland war sehr groß. Ich wohnte im Studentenheim für ausländische Konservatoriumsstudenten, musste mir anfangs das Zimmer teilen, litt unter fixen Duschzeiten, schimmeligen Toiletten und Waschräumen, der eisigen Kälte und einer neuen Sprache. Es war alles mit einer extremen Anstrengung verbunden. Aber irgendwie schaffte ich es.
Die Konzertausbildung (Aspirantura) in Russland war meine beste musikalische Ausbildung, nicht nur wegen des tollen Klavierunterrichts, meines Übens bis zum Umfallen und der neuen Freundschaften, sondern auch, weil ich die russische Sprache lieben lernte und das ­Kulturangebot dieser musikalischen Hochburg voll ausnutzte. Außerdem hatte ich mir vorgenommen, so viel wie möglich von meinem Unterricht zu profitieren. Ich hospitierte oft bei anderen Studenten und durfte dann bald auch meine Kommentare dazu abgeben. So gewann ich auch das schwierig zu erlangende Vertrauen meines Professors.
Der Unterricht bei ihm war immer sehr logisch aufgebaut. Sein Wissen und Können, das er mir vermittelte, gingen einher mit einem Erfahrungsschatz von über dreißigjähriger Lehrtätigkeit. Da ich ihm blind vertraute und versuchte, so viel wie möglich von seiner Erfahrung zu profitieren, lernte ich viel und schnell.
2007 verstarb mein Vater, mein Professor in Russland wurde sicher auch aus diesem Grund zu einer Vaterfigur in meinem Leben. Auch er ging mit Lob äußerst sparsam um. Zum Glück erzählte er aber meiner besten Freundin, die bei ihm seit früher Kindheit Unterricht hatte, jeweils von seinen Eindrücken über mein Spiel, und diese teilte es mir mit. Unter uns Freundinnen diskutierten wir oft darüber, ob es Lehrenden allgemein schwerfällt, ein Feedback zu geben, und ob es auch einen Einfluss hat, ob man Unterricht bei einer Frau oder einem Mann hat. Ohne mich in dieser Genderfrage verlieren zu wollen, glaube ich aus Erfahrung sprechen zu können, dass man als junge Frau mehr Feedback braucht, und da Lehrerinnen dies wissen und kennen, können sie schneller – vielleicht auch unbewusst – darauf reagieren.
Seit ich nach meinem Abschluss in St. Petersburg in Berlin lebe, versuche ich noch immer, mindestens einmal im Jahr zu meinem Professor nach Russland zu fliegen und ihm vorzuspielen. Von all meinen Lehrerinnen und Lehrern ist er derjenige, dem ich am meisten vertraue und bei dem ich weiß, dass er mir mit einer einzigen Unterrichtsstunde alle Weichen in einem Stück so stellen kann, dass ich alleine wieder gut klarkomme.

Abschluss – Berlin

Zusammenfassend kann ich sagen: Der Inst­rumen­tal­unterricht, den ich als Kind erhielt, war ein Teil meines Lebens. Das instrumentale Lernen fand im Unterricht, aber auch außerhalb statt, meine anderen künstlerischen Tätigkeiten hatten auch immer einen Einfluss auf mein Klavierspiel. Im Verlauf meines Studiums wurde der Klavierunterricht zur wichtigsten Stunde der Woche.
Das Verhältnis zur jeweiligen Lehrperson war immer unglaublich wichtig: Als Kind ging es um eine Gesamt­erscheinung der Person; als Studentin stand das Vertrauen in Beziehung zum instrumentalen Lernen im Vordergrund, das heißt, sobald ich merkte, dass das, was mir der Lehrer oder die Lehrerin beibrachte, funktionierte, vertraute ich ihm bzw. ihr.
Den Instrumentalunterricht als abgeschot­teten Unterricht jenseits des Lebens zu betrachten, scheint mir unmöglich. Der Alltag hat unmittelbaren Einfluss auf jeg­lichen Inst­rumentalunterricht, und jede Lebenssituation spielt im Instrumentalunterricht eine Rolle.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 1/2017.