Moritz, Ulrich

Rhythmus zwischen Imitation und Improvisation

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 1/2001 , Seite 06

Einige kurze Bemerkungen zu meinem Verständnis von Rhythmus und Improvisation seien mir vorweg gestattet: Ich schreibe aus meiner ganz persönlichen Sicht: Ich bin ein Beat-begeisterter Musiker und Groove-liebender Rhythmus- und Trommellehrer – und ein überzeugter Praktiker. Jedesmal, wenn ich vor dem Papier oder der Computertastatur sitze und über dieses Thema einen Artikel beginne, denke ich sehnsüchtig: Rhythmus ist etwas, was man machen, und nicht etwas, worüber man schreiben sollte! In der Praxis – beim Musizieren und auch in der Unterrichtssituation – greifen Planung und Intuition, Aktion und Reaktion, Bewegen, Hören, Fühlen und Denken meist mit Leichtigkeit ineinander. Bewegungsabläufe, Haltungen, rhythmische Zusammenhänge, Wirkungen in Worte zu kleiden, also diese vielfältige Einheit zu sezieren und zu analysieren, scheint mir ungleich mühsamer und einem “Groove”-Gefühl, also einer körperlichen und mentalen Hingabe an Rhythmus, eigentlich wesensfremd.

Je nachdem, ob ich mit klassischen Musikern, mit ausgebildeten Rhythmikern, mit Freejazzern, mit Musiktherapeuten spreche, begegne ich einem anderen Verständnis des Begriffs Rhythmus. Er scheint, abgesehen von lexikalischen Definitionen, je nach musikalischer Herkunft und Vorliebe mit unterschiedlichem Inhalt gefüllt zu werden. Mein Rhythmusgefühl und demzufolge mein Rhythmusbegriff wurden geprägt durch den frühen Kontakt zu Jazz, Rock, Funk und Hiphop, dann erweitert und differenziert durch die Begegnungen mit außereuropäischer Musik und das Spielen mit traditionsbewussten und experimentier- und improvisationsfreudigen Musikern aus vielen Kulturen. Meine Rhythmusästhetik ist körperorientiert; sie basiert auf Bewegung, und zwar auf einer Bewegung, die den rhythmischen Grundpuls der Musik widerspiegelt: den Beat. Wenn sie gut gespielt ist, ist diese Musik trotz hoher rhythmischer Komplexität dem Tanz immer sehr nahe; häufig tanzen die Musiker beim Spielen, und auch den Zuhörern fällt es oft schwer, ruhig sitzen zu bleiben.

Neben diesem starken Zentrum Rhythmus, um das mein Musikerdasein kreist, liegt das zweite große Thema: die Improvisation. Auch für diesen Begriff ist eine Eingrenzung nötig, da Improvisation in unterschiedlichster Art möglich ist. Während für manchen Musiker Metrum, Takt, Pattern schon Reizworte sind, Einschränkungen, die jegliche musikalische Kreativität ersticken, lieben andere – wie ich – auch die Reibung, die Spannung, das energetische Potenzial, das sich zwischen Grundrhythmus und Improvisation aufbauen kann. Im Folgenden ist also von einer rhythmisch gebundenen Improvisation die Rede. In allem, in dem Rhythmus ist, ist auch die Möglichkeit zur Freiheit: die Variation, die eigene Neuschöpfung, der spontane Dialog, auch der Ausflug ins rhythmisch freie, Klang erforschende Spiel mit der folgenden Rückkehr ins Metrische. Gerade der Rhythmus mit seinem starren Gerüst aus Beats, Takten und Pattern lädt uns immer wieder ein, innerhalb dieser Grenzen, aber auch gegen sie kreativ zu werden. Das Verlassen der Pattern macht ihre Schönheit erst deutlich – und umgekehrt. Improvisation ist Lebendigkeit, ist Wachheit und Offenheit; Improvisation macht die Regeln menschlich.

Der Rhythmus – Ein Rhythmus

Rhythmus ist das erlebte Ordnen von Zeit, ist unsere Erfahrung mit dem strukturierten Vergehen von Zeit. Wir leben, eingebettet in große und kleine Zyklen, in rhythmischen Folgen, die sich tagaus, tagein, im jahreszeitlichen Wechsel, in Lebensläufen wiederholen – immer gleich und doch voller Variationen. Unser Körper wie auch der aller anderen Lebewesen arbeitet in Rhythmen: mit der geregelten unablässigen Folge von Aktivität und Erholung, jedes Organ, jeder Teil, jede Zelle, vom Gehirn bis zum Darm. Das Funktionieren unseres Körpers ist eine polyrhythmische Symphonie, ebenso großartig und bisher unerklärlich wie die biochemischen Rhythmen einer Pflanze oder die Bewegungen unseres Planeten oder des Kosmos.

Rhythmus ist Bewegung, denn ohne Bewegung nehmen wir kein Vergehen von Zeit wahr. Manche unserer Bewegungen spüren wir, viele in uns nicht. Eine rhythmische Qualität erleben wir, wenn sich Bewegungen wiederholen und wir Strukturen erahnen. Im Alltag bleibt rhythmisches Handeln meist unbemerkt, weil es unbewusst und flüchtig passiert: beim nervösen Tippen auf das Lenkrad, beim Zähneputzen, Kämmen, Winken, immer wieder im Vorgang des Sprechens. Zwei unwillkürliche, starke Rhythmen enden erst mit uns: Herzschlag und Atem. Deutlich aber spüren wir Rhythmus beim Gehen, Laufen, Treppensteigen, Radfahren, Schwimmen. Bisweilen kommt der Anlass für unser rhythmisches Mitempfinden und Bewegen von außen: Immer etwas riskant sind die Rhythmusexperimente im fahrenden Auto zum Geräusch des Scheibenwischers oder des Blinkers; allmählich seltener werden die Übungen in der Bahn zum Rollen der Räder über die Gleisfugen oder zum Rhythmus von Maschinen. Doch am liebsten lassen wir uns anregen von einer Musik, der wir zuhören und zu deren Beat wir mitklatschen, schnipsen, nicken, wippen, schunkeln, tanzen.

Auch in der Musik bezieht sich der Begriff Rhythmus auf das Fließen, das Wiederholen, das zyklische Wiederkehren. Er besitzt inzwischen mehrere Bedeutungsebenen und ist ein oft ungenaues Synonym geworden für jeglichen Umgang mit musikalischen Zeitstrukturen (“Rhythmus kann man nicht lernen!”), für das Beziehungsgeflecht Bewegung-Musik, für das Metrum (“Gib mir mal den Rhythmus!”), für rhythmische Kraft, Exaktheit, Ausdruck (“Jemand/eine Band hat einen tollen Rhythmus.”). Für Musiker Beat-bezogener, Groove-orientierter Musik – und dazu gehört fast alle Volks-, Folklore-, Ethno-, Welt-Musik, auch jede populäre und tanzbare Musik und ein überwiegender Teil des Jazz – bedeutet ein Rhythmus darüber hinaus meist ein ganz bestimmtes rhythmisches Muster: eine spezifische, oft stilgebende Folge von Akzenten, die einem Musikstück einen durchgehenden rhythmischen Rahmen gibt. Dieses Muster kann auf nur einem Instrument gespielt werden – auf einer Trommel, einem Percussioninstrument wie Claves, Triangel oder Glocke oder auf anderen “Rhythmusgruppen”-Instrumenten wie Bass, Gitarre, Klavier, Akkordeon etc. – oder aus einer Schichtung mehrerer Instrumentalstimmen entstehen. Bekannt sind die mehrstimmigen Percussionrhythmen lateinamerikanischer, brasilianischer oder afrikanischer Musik; aber auch in jeder kleinen Rock- oder Jazzband arbeiten die Mitglieder an ihrem Groove, also an dem Ineinandergreifen und Eins-Werden ihrer Einzelstimmen.

Jeder von uns sieht Formen und Farben, doch nicht jeder eignet sich zum bildenden Künstler. Auch die Tatsache, dass wir einen rhythmisch arbeitenden Organismus besitzen und Teil einer zyklisch funktionierenden Natur sind, ja sogar, dass viele unserer Bewegungen rhythmischen Charakter haben, bedeutet nicht, dass jeder von uns gleichermaßen befähigt ist zur Gestaltung musikalischer Rhythmen. Musikalische Rhythmen sind Kunstprodukte, Artefakte, über lange Zeit entwickelt und verfeinert und oft geübt. Ich denke, dass einerseits die natürliche Veranlagung zur fließenden, kontrollierten grob- und feinmotorischen Bewegung und zum mitempfindenden rhythmischen Hören von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist. Gesichert aber ist auch, dass die Entwicklung von Rhythmusempfinden und Rhythmusfähigkeit von Kind an gefördert oder behindert werden kann. Eine besondere Rolle spielen dabei Möglichkeiten und Anreize zur Bewegung (klettern, rennen, balancieren, werfen und fangen, tanzen etc.) und zur Raumerkundung im und außer Haus. Entscheidend sind auch die kulturellen Voraussetzungen. Wenn das aufmerksame Hören und das “Selbermachen” von Musik und Rhythmus zum sozialen Selbstverständnis von Elternhaus, Dorf oder einer Nation gehört, fallen das Nachahmen der Kinder und das Unterstützen durch Erwachsene leichter.

Der Beat ist der Ursprung

Der Beat ist die körperlich spürbare, sich stetig wiederholende, gleichmäßige Teilung von Zeit in der Musik. Er ist der metrische Hauptimpuls, dessen Geschwindigkeit wir in eine Gehbewegung oder in ein nicht zu schnelles Händeklatschen umsetzen können. Für Drummer und Percussionisten, aber auch die anderen Musiker unserer Genres ist der Beat die Urzelle rhythmischen Erlebens und Gestaltens: In ihm ist alles enthalten, aus ihm geht alles hervor. Mit ihm als Heimat ist jede gewagte Rhythmus-Expedition möglich; er ist das Seil, das uns MusikerInnen zusammenhält und dabei jedem maximale individuelle Freiheit in der Improvisation lässt; er ist das Geländer, das uns begleitet, ohne dass wir uns permanent festhalten müssen. Dabei muss der Beat nicht durchgehend gespielt werden und nicht immer zu hören sein, und doch muss er in uns weiterschwingen, da er die metrische Basis ist, auf der wir das rhythmische und melodische Geschehen fühlen, begreifen – und analysieren.

Jede rhythmische Musik lebt von der Spannung zwischen den verschiedenen metrischen Pulsationen: Innerhalb der Beats wirken die Mikrobeats (auch Mikro-Time oder Elementar-Pulsation genannt: Achtel, Triolen, Sechzehntel etc.) mit ihrer unterschiedlichen Offbeat-Kraft; sie sind in starkem Maß für den Eindruck von Schnelligkeit und Lebendigkeit verantwortlich. Innerhalb der Takte verleihen die Beats durch ihre unterschiedlich empfundene Gewichtigkeit jeder Taktart ihren Atem und inneren Tanz; die schnelle Bewegung der Mikrobeats wird in den Hebungen und Senkungen der Beats auf ein tanzbares Maß beruhigt. Über die Taktstriche hinaus verdeutlichen die melodische Gestaltung, die Harmonisierung und oft auch eine rhythmische Variation den Zusammenhalt mehrtaktiger – meist vier-, acht- und zwölftaktiger – Bögen; sie geben die Möglichkeit für großflächige dynamische Gestaltung.

Rhythmus-Unterricht – unbedingt!

Die Vertiefung von Rhythmusverständnis und die Verbesserung der rhythmischen Fertigkeiten ist für jeden Musikinteressierten (gleich welcher Richtung und unabhängig vom Instrument) wichtig und nützlich. Gerade mit den Körper-Percussion- und Sprechübungen wird das intuitive Erfassen rhythmischer Pulsationsebenen (Takte, Beats, Achtel, Achtel-Triolen, Sechzehntel, Quintolen etc., 3:2, 2:3, 3:4, 4:3 etc.) und ihrer Offbeat-Kräfte geschult. Jede Pulsation, jeder Offbeat, jedes kurze Rhythmusmotiv hat – so erlebe ich es – einen spezifischen “Geschmack”; hören wir es oder sehen wir die Noten, wird eine Resonanz in unserem Körper ausgelöst und “es spielt sich” in uns. Damit wird das improvisatorische und das Spiel nach Noten exakter, entspannter und lebendiger. All das gilt auch und in besonderem Maße für die puren Rhythmiker, die Drummer und Percussionisten.

Folgende allgemeine Lernziele verfolge ich im Unterricht, sowohl in den Einzelstunden am Drumset und an Percussioninstrumenten als auch in den Bodypercussion- und Instrumental-Seminaren und Workshops, an denen StudentInnen, SpielerInnen unterschiedlicher Instrumente, MusiklehrerInnen, Musik- und SprechtherapeutInnen und interessierte Laien teilnehmen:

– Die SchülerInnen sollen die Beschäftigung mit Rhythmus als eine spielerische und gleichzeitig ernsthaft-intensive Lernmethode erleben, die ihnen hilft, sich als Individuum und als Gruppe musikalisch auszudrücken. Das ist im Nachspielen ethnischer Rhythmus-Pattern als auch in der Improvisation und Eigenkomposition möglich. Rhythmus kann ein positiver, Kraft spendender, oft heilsamer Teil des Lebens werden und macht am meisten Spaß in einer Gruppe.

– Sie sollen die rhythmischen Kategorien und Gesetzmäßigkeiten kennen lernen und am Instrument (dazu gehören auch Körper, Sprache oder klanglich nutzbare Materialien) umsetzen können.

– Gemeinsames Rhythmusspiel erfordert die Synchronisation, also die Angleichung der individuellen Zeit- und Bewegungsempfindungen. Die SchülerInnen sollen das Verantwortungsgefühl für das Zusammenspiel der Gesamtgruppe entwickeln, welches eine hohe Disziplin voraussetzt.

– Sie sollen die Geborgenheit im gemeinsamen Rhythmus und die Sicherheit und zunehmende Kenntnis der eigenen Bewegungsabläufe als Chance erkennen, Improvisationen zu wagen.

– Sie sollen zunehmend rhythmische Ereignisse in Schriftform festhalten und umgekehrt geschriebene Rhythmen in Klang und/oder Bewegung verwandeln können. Beim Abspielen von Noten sollen die Bewegungen fließend und kontrolliert sein, exakt, aber nicht steif, mit dynamischen Nuancen, eingebettet im Körperbewusstsein von Beat und Takt. Nach einiger Zeit soll ein rhythmisches Notenmotiv beim Erlesen bereits eine innere Vorstellung der Bewegung, einen unsichtbaren, aber deutlich gefühlten Tanz auslösen.

Zum Erreichen dieser Ziele können vielfältige Methoden führen:

– Sinnvoll ist das Studium stilbildender Rhythmuspattern als anregende Modelle für den bewussten und fantasievollen Umgang rhythmuserfahrener Kulturen mit den unzähligen Möglichkeiten rhythmischer Gestaltung. Das findet sowohl an den jeweiligen Instrumenten statt als auch mit Körper und Stimme.

– Neben der instrumentalen (Trommel-) Technik werden das rhythmische Gedächtnis und die Kreativität durch wechselseitiges Vor- und Nachspielen und -sprechen und durch das abwechselnde Spielen und Sprechen/Singen kurzer improvisierter Soli geübt.

– Wichtig für die Schulung rhythmischer Improvisationsfähigkeit ist das Kennenlernen und Einprägen kurzer rhythmischer Motive als Bausteine, als eine Art “Vokabel-Training” für das spätere freie Sprechen.

– Unentbehrlich für die Erlangung motorischer Unabhängigkeit ist das Erlernen von Automatismen: Ein Bewegungsablauf wird so lange wiederholt, bis er nur noch unterbewusst gesteuert wird und das Kontrollbewusstsein frei ist für den Einsatz anderer Aktionen.

– Ideal, weil elementar und instrumenten-unabhängig, ist auch hier immer wieder der Einsatz vokaler und gestischer Methoden, Rhythmen darzustellen (Pattern und Improvisationen zu sprechen, zu patschen, zu klatschen) und dabei den Beat bzw. die Taktarten zu verdeutlichen (mit Zahlworten, Rhythmussilben, Handgesten, Schrittformen).

Bodypercussion

In vielen Regionen, in denen der Rhythmus und das Trommeln essenzieller Teil des Musikmachens sind, gibt es lautmalerische Rhythmus-Sprachen, mit denen Rhythmen und Rhythmus erlernt werden; mit ihnen und mit Klatschsystemen, Gebärden, Schrittfolgen und Spielen werden traditionelle Lieder, Trommelrhythmen und rhythmisches Improvisieren gelehrt. Der Körper wird so für Rhythmus empfänglich und durchlässig.

Die Bodypercussion belebt einen Teil dieser uns verloren gegangenen Traditionen wieder. Wir stehen oder sitzen im Kreis, laufen oder stampfen, klatschen und schnipsen, trommeln Rhythmen auf Hüften, Bauch, Brustkorb und Oberschenkel, sprechen diese Rhythmen vor oder mit und singen und sprechen auf sie kurze Texte, Lieder und kleine Improvisationen. Die Erfahrungen von Beat und Offbeat, Mikro-Time, Taktlänge, von Polyrhythmik und Polymetrik werden im eigenen Körper wirksam und können dann umso bewusster in der Gruppe genossen werden. Wir erlernen und erleben Rhythmen auf körperlicher, intellektueller und emotionaler Ebene.

Bodypercussion ist selten eine eigene, performance-geeignete Form der Trommelkunst (wie z. B. bei “Stomp”), sondern eher eine bei jedem Lehrer anders geartete Methode, Anregungen aus verschiedenen Kulturen mit eigenen Möglichkeiten und Erfahrungen zu verknüpfen, um Rhythmus für uns wieder lebendig, sinnfällig und erlebbar zu machen. Die gründlichsten, reichhaltigsten Rhythmus-Lehrmethoden mit Kombinationen aus Handgesten und Rhythmussilben stammen aus Indien. Auch Tänze aus aller Welt und die Klatsch- und Bewegungsspiele von Kindern sind ein unerschöpflicher Fundus.

Die Rhythmuspattern der Bodypercussion sind meist nicht auf bestimmte geografisch abgrenzbare Musikstile festgelegt. Durch ihre enge Beziehung zu Bewegung und Sprache sind sie jedoch immer eher in der Folklore und in tanzbarer Musik verwurzelt. Ihre rhythmischen Strukturen finden sich in vielen Kulturen wieder, da sie auf Grundformen menschlichen Bewegens basieren.

Bodypercussion kann sehr abwechslungsreich gestaltet werden: laut und leise, wild und ruhig, überschwänglich und besinnlich. Der Anfang einer Übungsreihe sollte einfach und möglichst jedem zugänglich sein. Unmerklich können dann komplexere Rhythmen entstehen. Dabei darf keine Angst vor Fehlern geweckt werden: Das eigene Entdecken “falscher” Klatscher, Schritte, Silben, das Wieder-Hineinfinden in den Bewegungsfluss ist ein wesentlicher Lernfortschritt. Bodypercussion nimmt sich die Zeit, in Ruhe den rhythmischen Bewegungsmöglichkeiten unseres Körpers zu lauschen, sie zu verfeinern, sie miteinander zu kombinieren, mit ihnen zu spielen, ihren Ausdruck und ihre Genauigkeit zu steigern. Dabei kann sie dann auch sehr explosiv, ekstatisch oder komisch werden.

Die sich ergebenden Einsatz- und Lernmöglichkeiten sind fast unbegrenzt: Sie reichen von kurzen, spielerisch-auflockernden Bewegungsübungen bis zu mehrwöchigen intensiven Workshops, von meditativen, auch therapeutisch eingesetzten Einheiten bis zu Übungen von komplexen polyrhythmischen und polymetrischen Strukturen. Musikalisch Interessierte jeder Stilrichtung können mit ihnen die rhythmische Kraft melodischer Motive kennen lernen, Tanzbegeisterte die Rhythmen tänzerischer Schritt- und Bewegungsfolgen erforschen und kreativ gestalten, SchlagzeugerInnen und PercussionistInnen ihre Instrumentalstimmen vorbereiten und ganzkörperlich verstehen und ihre Koordination verbessern. In der Ausgewogenheit zwischen Gelassenheit und Anstrengung, Aufmerksamkeit und Sich-Selbst-Vergessen, Konzentration auf den eigenen Körper und Gruppenwahrnehmung kann jeder auf seine Art Ruhe und Kraft, Entspannung und Vergnügen finden.

Rhythmische Improvisation

Es gibt in Europa unzählige Trommelgruppen, die afrikanische, brasilianische, lateinamerikanische oder balinesische Rhythmen nachspielen. Oft gibt es Meinungsunterschiede, welche Gruppe den “richtigeren” Kpanlogo oder Santeria-Rhythmus trommelt. Für die musikethnologische Forschung mag das wichtig sein, für den Spaß am Trommeln und für das Erlernen und Verfeinern eigener rhythmischer Fertigkeiten ist das meist nicht entscheidend. Wichtig scheint mir, darauf zu achten, was für die jeweilige Gruppe machbar ist, was für sie gemeinsam gut spielbar ist, entspannt und exakt “groovt” und Genuss, Lebendigkeit und Kommunikation ermöglicht. Und man sollte sich vor Augen halten, wie viele dieser ethnischen Rhythmen entstanden sind und auch heute noch entstehen und sich weiterhin verändern: selten von einer Person fertig komponiert, sondern in der Gemeinschaft beim Trommeln, Singen und Tanzen “er-improvisiert”. Vielleicht bildet ein bekanntes Motiv den Ausgangspunkt, eine neue Trommelstimme kommt dazu, dazu passt doch diese Glockenstimme – eine Idee ergibt die nächste. Wenn der komplette Rhythmus alle begeistert, wird er vielleicht ins Repertoire übernommen, wenn nicht, wird er schnell vergessen.

Was ist nötig, damit in einer Bodypercussion- oder Trommelgruppe Improvisation möglich und lustvoll wird?

Zuerst müssen wir die Ergebnisse der Improvisation generell wertschätzen. Bei allem Respekt vor den traditionellen Rhythmen, deren Schönheit, Kraft und Lebendigkeit uns immer wieder staunen lassen und die auch für mich eine unerschöpfliche Quelle des Lernens und Vergnügens sind: In einem einzigen improvisierten Ton liegt oft das ganze Bemühen und der ganze Mut des oder der Übenden, und schon das macht diesen einen Ton schön und liebenswert. Stellen wir uns einen Kreis von Trommelnden oder Klatschenden vor, die einen einfachen Rhythmus spielen; jeweils einer von ihnen soll auf diesem Rhythmus improvisieren. Vielleicht schafft der oder die Improvisierende nur einen Ton genau auf der Eins des 4/4-Taktes, und das viermal hintereinander, weil das improvisierte Solo vier Takte dauern soll – das ist dann das Allerbeste und gerade das Richtige, wenn es den Fähigkeiten des Ausführenden entspricht!

Es gibt in der Improvisation nichts, was zu einfach ist. Kein Rhythmus ist zu simpel, Wiederholungen von Motiven sind nicht verboten, sondern erwünscht. Ziel eines improvisierten Solos ist nicht, die MitspielerInnen zu verblüffen mit bisher nie gehörten Figuren und atemberaubender Schnelligkeit (obwohl auch das später reizvoll sein kann), sondern auch in der Improvisation im rhythmischen Kontakt mit der Gruppe zu bleiben und seine innere Ruhe und Beat-Stabilität nicht zu verlieren. Auch das Solo stützt das rhythmische Geflecht der Gruppe, nicht nur umgekehrt! Nach dem Solo ist ein Lächeln und entspanntes Wieder-Hineingleiten in den Gruppenrhythmus wünschenswerter (und gesünder!) als ein roter Kopf mit Schweißausbruch und anschließender Suche nach Beat und Takt.

Für rhythmische Improvisationsübungen ist eine angstfreie Atmosphäre eine Notwendigkeit. Es kann keine Fehler geben und deshalb auch keine Strafen, eher Belobigungen für jeden Versuch. Für den Improvisations-Neuling bedeutet jedes Solo Stress, den wir LeiterInnen mit Gelassenheit und Humor abmildern können. Ein unbeabsichtigter Ton kann bei viermaliger Wiederholung immer schöner und reizvoller klingen, er kann aber auch in der Wiederholung korrigiert werden. Mein Wahlspruch für solche Fälle: Lieber laut und “falsch” als schüchtern und (vielleicht) richtig!

Oft fördern Einschränkungen die Kreativität. Rhythmus ist per se eine solche: Rhythmische Improvisation findet “in time” statt, mit Bezug zum Beat und zur Begleitung. Rhythmus erfordert auch vom Solisten die Konzentration auf den Gruppenrhythmus, während er gleichzeitig rhythmische Fantasie entfalten soll. Außerdem gibt der Begleitrhythmus mit Taktart, Mikro-Time und Akzenten ein bestimmtes Zeitraster vor. In der Bodypercussion-Runde sollen auch die SolistInnen ihr Schrittmuster weiterlaufen, während die Hände ein Solo klatschen; in der Trommelrunde sollen die Hände der SolistInnen den festgelegten einfachen Rhythmus weiterspielen, während sie in einem gesungenen Solo beispielsweise die Bestandteile ihres Frühstücks aufzählen: harte Erschwernisse für eine Improvisation. Darüber hinaus halte ich taktweise Beschränkungen immer wieder für sinnvoll: um nämlich allmählich die gestalterische Fähigkeit zu entwickeln, 1-, 2-, 4- oder 8-taktige Soli mit einem entsprechenden Spannungsbogen und formaler Geschlossenheit zu bewältigen. Schon innerhalb eines viertaktigen Improvisations-Solos kann man sich hoffnungslos verirren.

Auch Einschränkungen auf spieltechnischer Ebene kommen dem rhythmischen Erfindungsreichtum zugute: z. B. Benutzung nur eines Körperklangs; Benutzung nur eines Körperklangs für eine Hand, während die andere frei entscheiden darf; Benutzung nur eines oder zweier Instrumentalklänge; Spielen nur solcher Töne und Rhythmen, die man synchron mitsprechen kann; Höchstzahl von 3, 4, 5 Tönen pro Takt; erlaubtes “Höchsttempo” von Achteln, Achteltriolen etc.; Verbot der “Eins”.

Man sieht: Sogar das Üben rhythmischen Improvisierens kann mitunter eine ernste, mit neuen Vorschriften geregelte Angelegenheit werden. Als Gegenmaßnahme halte ich – um Hemmungen abzubauen, Spaß zu haben, Extreme zu erproben, neue Ausdrucksmöglichkeiten zu entdecken und aus “Fehlern” Ideen zu gewinnen – auch das Ausgeben von unsinnigen, “falschen”, paradoxen Improvisations-Anweisungen für sinnvoll: so laut oder schnell wie möglich spielen; so leise und schüchtern wie möglich; sich nicht trauen anzufangen; nicht mehr aufhören können; so falsch spielen, dass die Gruppe ihren Rhythmus verliert; so steif, dass man kaum noch spielen kann (aber nicht zu lange!); etwas anderes singen oder sprechen als man spielt; jeden Schlag entschuldigen, über jedes Motiv erschrecken…

Das Erlernen von Rhythmusfertigkeiten und improvisatorischen Techniken an Percussioninstrumenten und mit dem Körper bedarf oft der Strenge des schematischen Übens. Oft beklagen wir Rhythmus-Süchtigen den Ungehorsam unseres Körpers: Was wir intellektuell längst begriffen haben, lernt er – z. B. bei Unabhängigkeitsübungen – erst nach hundertfacher Wiederholung und zig Irrtümern. Dieses Verzweifeln und Gegen-Mauern-Stoßen hat durchaus positive Seiten, denn Stolz auf die eigene Leistung und Freude am gemeinsamen Wachsen haben einen Grund auch in dem Bemühen, das zur Bewältigung dieser Schwierigkeiten nötig war. Hat unser Körper aber einmal das rhythmische Spiel der Bewegungen, Berührungen und Gewichtsverlagerungen verinnerlicht, dann brauchen wir keine Drogen mehr, um gleichzeitig fliegen und schwimmen, träumen und wach sein, hier und dort sein zu können. Dann ist Rhythmus Freiheit.

Exemplarische Übungen

Übungsreihe 1
Gerade beim Beschreiben von Rhythmus-Übungen vermisse ich am stärksten den direkten Kontakt zum Lesenden/Lernenden. Wie beim Erlernen eines Instruments ist auch hier das lebendige Vorbild das beste “Lehrmittel”, das es gibt. Einfacher, schneller, deutlicher, überzeugender kann kein Lehrbuch, kein Aufsatz sein. Und schon gar nicht persönlich zugewandt und individuell reagierend.

Dennoch möchte ich am Ende dieses Artikels einige Übungsreihen vorstellen, mit denen am eigenen Körper erfahrbar werden möge, was diese Begriffe wie Beat, Offbeat, Basis, Automatismus, Polyrhythmik etc. für die Wahrnehmung unseres rhythmischen Bewegens und Sprechens bedeuten. Es ist überhaupt nicht wichtig, die einzelnen Etappen der Übungsreihen schnell zu durchlaufen; auch ist nicht entscheidend, am Ende anzukommen. Die Übenden sollten sich vielmehr die Zeit und Ruhe gönnen wahrzunehmen, auf welche Weise sie ihre Bewegungen und Vokalrhythmen gestalten: Wie viel Anstrengung, Konzentration, Entspanntheit, Genauigkeit, Bewegungsumfang, Lautstärke, Schmerz, Genuss etc. benötige oder erziele ich?

Das Motiv der ersten zwei Übungsreihen ist weltweit verbreitet und hat viele Namen: Tresillo Cubano, Baião, One-bar-clave. Mit vielen Variationen taucht es in arabischer, afrikanischer, latein- und südamerikanischer, Pop- und Jazzmusik auf; Peter Giger nennt diesen Rhythmus deswegen auch den “Universal-Rhythmus”. Die Silben sind dem indischen Rhythmus-Lehrsystem entnommen; LinkshänderInnen benutzen bitte die jeweils andere Hand.

Übungsreihe 2
Eine Übungsvariante mit demselben Motiv stellt die zweite Übungsreihe dar. Sie beginnt wie die erste, mündet aber in einem konstanten Vocalpattern mit verschiedenen, später auch improvisierten Handgesten-Rhythmen.

Übungsreihe 3
Als dritte Übung folgt ein 6/8-Motiv, Bestandteil vieler afrikanischer und kubanischer Rhythmen und Melodien. Es ist ein zweischlägiger Rhythmus auf einer ternären Mikro-Time und dadurch für viele Ohren zu Beginn ungewohnt und auch als Bewegungsfolge schwieriger. Die Achtel sollen ruhig gesprochen und geklatscht werden; deshalb haben die auf der Stelle gelaufenen Beats einen relativ langen Abstand voneinander, und dennoch soll das wechselnde Fußabsetzen zunehmend fließender, gleichmäßiger und mit Leichtigkeit erfolgen.

Literatur
Dahmen, Udo: “Bodypercussion”, in: Musik und Unterricht 43/1997, S. 36
Flatischler, Reinhard: Die vergessene Macht des Rhythmus, Essen 21994
ders.: TA KE TI NA – Der Weg zum Rhythmus, Essen 1993
Giger, Peter: Die Kunst des Rhythmus, Mainz 32000
Moritz, Ulrich: Body-Beat! – Bodypercussion und Trommeln, Eigenverlag
Steffen-Wittek, Marianne: “Rhythmus im Blut?”, in: Musik und Unterricht 43/1997, S. 28
Zimmermann, Jürgen: Juba – Die Welt der Körperpercussion, Boppard 1999

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