Wohlwender, Ulrike

Riskante Winkel

Ursachen von Overuse-­Syndromen auf der Spur

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2019 , Seite 14

Eine aufwändige Längsschnittstudie zu Gesundheit und Präventions­verhalten von Musikstudierenden an fünf Musikhochschulen kam 2017 zu dem ernüchternden Ergebnis, dass sich die „spielbeeinträchtigenden Beschwerden“ von Studierenden trotz präventiver Aktivität seit Studien­beginn im dritten Studienjahr nur unwesentlich reduziert hatten.1

Ausdauersport, Autogenes Training, Yoga, Meditation, Alexandertechnik, Feldenkrais, Dispokinesis, Mentales Training etc. hatten nicht den erhofften Erfolg gebracht. Ganz im Gegenteil: Die Musikermediziner fanden sogar Hinweise dafür, „dass sich die akuten Be­schwerden im ersten Studienjahr im Laufe des Studiums in chronische Beschwerden umgewandelt haben“.2 Allerdings wurde im Studien­design „eine Identifizierung spezieller instrumentenspezifischer Belastungsaspekte“ bewusst ausgeklammert. Vielleicht liegt aber gerade dort ein Schlüssel für ein ursachenspezifisches Verständnis von Spielbeschwerden? Im Folgenden sei daher am Beispiel Klavier ein Ansatz vorgestellt, der bei Überlastungssyndromen wie Sehnenüberreizungen, Gang­lien, einschlafenden Fingern etc. (= Overuse) Hand und Unterarm aus meh­reren Perpektiven in den Blick nimmt, dabei von subjektiv „schwierigen Stellen“ ausgeht, extreme Gelenkwinkel im anstrengendsten Moment betrachtet und die beobachteten Spielweisen mit individuellen Spannweiten und weiteren Handeigenschaften in Beziehung setzt. Die „dreifache Lupe“ (Abb. 1) hat sich bei der Beratung von Klavier- und Orgelstudierenden mit Overuse-Syndromen vielfach bewährt und wird in ähnlicher Weise am Zürcher Zent­rum Musikerhand bei Streichern, Bläsern, Pianisten, Gitarristen und Schlagzeugern etc. eingesetzt.3 Sie erweitert die biomechanische Untersuchung der Musikerhand nach Christoph Wagner4 durch eine spezifischere Befragung und Beobachtung am Instrument.


Ziel der Vorgehensweise ist es, kausale Zusammenhänge bei der Entstehung von Overuse-Syndromen oder auch nur auffälliger muskulärer Ermüdung zu erkennen und ursachenspezifische Ansätze für gesunde Spiel- und Übetechniken und langfristige Präven­tion zu gewinnen. Der (Selbst-)Wahrnehmung von Anstrengung und Ermüdung kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Die Einordnung in den weiteren körperlichen, seelischen und mu­sikalischen Kontext versteht sich von selbst.

Ein Fallbeispiel am Klavier

Eine 24-jährige Klavierstudentin (L 49) hatte sechs Wochen vor ihrer Zwischenprüfung eine „ziemlich anstrengende“ anderthalbstündige Klavierstunde mit der Polonaise op. 53 von Frédéric Chopin und den Variationen op. 41 von Nikolai Kapustin. Am Tag danach hatte sie „schlimme“ Schmerzen: „Seitdem tut der linke Unterarm immer weh, egal was ich mache“ (ganzer Unterarm, besonders an den mit Pfeilen markierten Stellen, Abb. 2).

Zwei Wochen später diagnostizierte der Hausarzt eine Reizung der dorsalen Streckmuskulatur des Unterarms am Ellenbogen. Eisbeutel, Dic­lofenac-Salbe und eine vorübergehende Spielpause halfen, die Schmerzen etwas zu lindern. Schon in den Monaten vor der schmerzauslösenden Klavierstunde hatte die Pianistin „ab und zu das anstrengende Gefühl beim Üben“. Sie habe „oft keine Pausen gemacht, sondern im Gegenteil weiter ‚trainiert‘, um mehr Ausdauer zu bekommen“. Im Jahr zuvor tat die linke Hand „jedes Mal weh, wenn ich mehr als dreieinhalb oder vier Stunden übte (mit Pausen)“. Der Schmerz saß damals (nur) knapp oberhalb des Handgelenks.
Als besonders „schwierige Stellen“ in ihrem aktuellen Repertoire bezeichnete die Pianistin Takt 81 im Capriccio aus Bachs Partita Nr. 2 c-Moll, die Oktavketten über 30 Tak­te ab Takt 85 in Chopins Polonaise As-Dur op. 53 und mehrere Passagen aus Kapustins Variationen op. 41: „Das hat mich umgebracht! Dagegen fühlte ich mich in den beiden anderen Stücken nur mit ein paar Stellen unwohl, aber eigentlich nicht so ungewöhnlich, auch nur kurz.“

1 Manfred Nusseck/Adina Mornell/Edgar Voltmer/Thomas Kötter/Berthold Schmidt/Jochen Blum/Alexandra Türk-Espitalier/Claudia Spahn: „Gesundheit und Präventionsverhalten von Musikstudierenden an verschiedenen deutschen Musikhochschulen“, in: Musikphysiologie und Musikermedizin, 2/2017, S. 67-84.
2 ebd., S. 79.
3 Horst Hildebrandt: „Gelingen und Gesundheit im ­Instrumentalunterricht. Physiologische Aspekte von ­Bewegungslernen und Körperwissen“, in: Wolfgang­Rüdiger (Hg.): Instrumentalpädagogik – wie und wozu? Entwicklungen und Perspektiven, Mainz 2018, S. 194 ff.; Horst Hildebrandt: „Angewandte Musikphysiologie – Beiträge zur Prävention und Lösung von medizinischen Problemen beim Spiel von Tasteninstrumenten“, in: ­EPTA (Hg.): Klavier und Bewegung, Dokumentation 2017/18, Düsseldorf 2019, S. 7-18.
4 Christoph Wagner: Hand und Instrument. Musikphysiologische Grundlagen, praktische Konsequenzen, Wiesbaden 2005, S. 118-136 und S. 337-345 (apparativ gestützte „Biomechanische Handuntersuchung“: differenziertes individuelles Handprofil, seit 2009 im Handlabor des ZZM) bzw. S. 263-270 und Messblätter („Pragmatische Handeinschätzung“: vereinfachtes Handform-Spannweiten-Profil und 11 Prüfbewegungen).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2019.