Henze, Hans Werne

Royal Winter Music

Zweite Sonate über Gestalten von Shakespeare für Gitarre solo, nach dem Manuskript hg. von Otto Tolonen

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2021
erschienen in: üben & musizieren 1/2023 , Seite 62

Hans Werner Henzes Royal Winter Music gehört zu den Mono­lithen im Gitarrenrepertoire des 20. Jahrhunderts. Gedacht als Hammerklaviersonate für die Gitarre bilden die beiden Sonaten von 1976 und 1979 dichte und komplexe Psychogramme von Shakespeare-Figuren. Ein Manuskript Henzes, das sich im Besitz der Paul Sacher Stiftung in Basel befindet, stellt die Grundlage der Ausgabe von Otto Tolonen dar, die sich als Ergänzung zur Schott-Erstausgabe von 1983 versteht. Beim Vergleich beider Editionen fallen Veränderungen in den dynamischen Angaben, der Akzentsetzung, den Klangfarben, der Spieltechnik und der Halsierung von Noten auf, aber auch veränderte Rhythmen und daraus resultierende neue Taktangaben.
Für eine Einschätzung dieser neuen Ausgabe muss kurz die Genese des Werks dargestellt werden: Diese zweite Sonate wurde von Henze im April 1979 beendet. Wegen Differenzen zwischen dem Komponisten und dem Widmungsträger Julian Bream wurde das Manuskript im Mai/Juni 1980 an den auf Neue Musik spezialisierten deutschen Gitarristen Reinbert Evers weitergereicht. Dieser richtete es bis Oktober 1980 ein und spielte im November 1980 die Uraufführung. Die von Evers für den Druck eingerichtete Fassung wurde von Henze autorisiert und erschien 1983 bei Schott. Die Ausgabe beinhaltete Druckfehler, die in einer zweiten Auflage, die wenige Monate später erschien, nur teilweise behoben wurden. Henze hat, so Tolonen im Vorwort, vermutlich erst nach der Drucklegung die Arbeit am Werk fortgesetzt und einige Stellen verändert. Als Beispiel dafür führt er die Ossias an. Die Variante von Takt 28 des ersten Satzes findet sich jedoch schon, von fremder Hand geschrieben, in dem Manuskript, das Evers 1980 von Henze erhalten hat.
Tolonen nennt seine Edition eine Urtext-Ausgabe. Einen Urtext im Sinne einer wissenschaftlich-kritischen Edition auf Basis aus­gewerteter Quellen stellt diese Ausgabe jedoch nicht dar, sondern nur die Wiedergabe eines Manuskripts in modernem Notensatz. Es bleibt unklar, wann dieses Manuskript entstand, wie es sich im Detail zur Ausgabe von 1983 verhält und vor allem, ob es die End- oder eine Zwischenfassung einer möglichen Revision darstellt.
Wegen der unklaren Quellenlage und der fehlenden Diskussion samt Bewertung sämtlicher Quellen – Tolonens Anmerkungen und Erklärungen sind marginal – wäre ein Faksimile der Handschrift, ergänzt um eine mit Fingersätzen eingerichtete Fassung von Tolonen, der ein vorzüglicher Interpret der Royal Winter Music ist, der editorisch deutlichere Weg gewesen.
Hoffen wir, dass die vorliegende Ausgabe gründlich lektoriert wurde. Eine gewisse Skepsis bleibt, zumal in der Titelei die Komposition mit „1975–1976“ datiert wird (anstelle von 1979) und der zweite Satz der 1983-Ausgabe nicht 107 Takte aufweist, wie es in den Anmerkungen steht, sondern 106.
Jörg Jewanski