Smyth, Ethel
Sämtliche Klavierwerke
Sonaten, einzelne Klavierstücke, Variationen, hg. von Liana Gavrila-Serbescu
Im 19. Jahrhundert waren sie der Normalfall: engstirnige Vorurteile gegen komponierende Frauen. Der britische Generalmajor Smyth wollte seine 1858 geborene Tochter Ethel sogar „lieber unter der Erde denn als Musikerin“ sehen. Doch Ethel Smyth wusste sich gegen den Vater mittels eines Hungerstreiks durchzusetzen. Als erste Frau nahm sie 1877 bei Carl Reinecke in Leipzig ein Kompositionsstudium auf, wechselte, damit unzufrieden, als Privatschülerin zu Heinrich von Herzogenberg und bewegte sich bald im Umkreis von Clara Schumann, Johannes Brahms und Edvard Grieg. Nach anfänglichen Misserfolgen setzte sich die streitbare, auch allgemein für die Frauenemanzipation kämpfende Musikerin schließlich beruflich durch, wobei sie mit sinfonischen Werken, Kammermusik und Opern bewies, dass Frauen nicht nur – ein weiteres Vorurteil der Vergangenheit – Kleinformatiges zu schaffen vermögen.
Die hier veröffentlichten Klavierwerke Ethel Smyths stammen sämtlich aus ihrer Leipziger Zeit von 1877 bis 1880, denn später kam die Komponistin nicht mehr auf das Tasteninstrument zurück. Am gewichtigsten sind die drei Klaviersonaten (deren letzte, nur aus Allegro und Scherzo bestehend, unvollendet geblieben ist). Die erste beginnt – nach zwei Akkordschlägen à la „Eroica“ – quasi naiv mit einem wie von Haydn stammenden Thema. Doch bald schon wird die Musik weiträumiger und -griffiger, entwickelt harmonischen Reichtum mit überraschenden Modulationen. Man merkt, dass Smyths Fantasie übers Klavier hinaus zum Orchestersatz strebt, ein Trend, der sich in der zweiten Sonate in cis-Moll noch verstärkt.
Manche der weiteren hier erstmals aus den Autografen veröffentlichten (und behutsam revidierten) Klavierstücke sind offenbar Studienwerke: kunstvolle Kanons in Gegenbewegung mit zusätzlichen Füllstimmen, sodass der Eindruck eines Charakterstücks, etwa eines Nocturne entsteht, oder eine kleine Suite sowie eine Invention in sparsam zweistimmigem Kontrapunkt. Nicht nur hier, sondern auch mit Smyths Präludium und Fuge in C-Dur wird unüberhörbar der Geist Bachs beschworen.
Abdrucken ließ die Herausgeberin ein weiteres Präludium-Fuge-Paar, das Ethel Smyth irrtümlich zugeschrieben wurde, jedoch aus der Hand Heinrich von Herzogenbergs stammt. Keine barocke Stilkopie bieten dagegen die je zwei mit „Minuet(t)“ oder „Sarabande“ überschriebenen Tänze, die eher Beschwörungen der Vergangenheit in der Sprache des 19. Jahrhunderts sind.
Mehrfach tragen die Kompositionen autobiografische Züge, etwa im Fragment Aus der Jugendzeit, bei dem ein Titelkürzel und die markante Quinte E-H im Bass auf die Freundin Elisabeth von Herzogenberg hinweisen, oder bei den pianistisch anspruchsvollen Des-Dur-Variationen über ein eigenes Thema „of an exceeding dismal nature“, die programmatisch offenbar von einem Reitunfall inspiriert sind.
Gerhard Dietel