Naito, Akemi

Sanctuary

für Akkordeon

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Augemus, Bochum 2006
erschienen in: üben & musizieren 5/2006 , Seite 66

Musik für Akkordeon kann sich nicht auf eine etablierte musikalische Tradition beziehen, wie es bei anderen Instrumenten der Fall ist. Das für ein musikalisches Kunstwerk so wichtige Kriterium der Musterhaftigkeit ist für einen Komponisten oder eine Komponistin hier nicht leicht zu erfüllen. So wählt die in Tokio geborene und in New York lebende Komponistin Akemi Naito den geradlinigsten Weg: Sie greift die im Klang und Tonerzeugungsprinzip des Akkordeons liegende Nähe zur japanischen Mundorgel Shô auf (die frei schwingende, durchschlagende Zunge dient wie beim Akkordeon der Tonerzeugung), die in der Musik des japanischen Kaiserhofs (Gagaku) seit Anfang des 8. Jahrhunderts Verwendung fand und ihren Vorläufer im chinesischen Shêng hat, das erstmals in der Shang-Dynastie (1766-1122 v. Chr.) in Erscheinung trat. Neben den Einflüssen südamerikanischer und zeitgenössischer europäischer Musik ist diese Musiktradition mit Abstand die älteste, auf die sich das Akkordeon beziehen kann, so wie es beispielsweise der japanische Komponist Toshio Hosokawa in Melodia (1979) überzeugend gezeigt hat.
Naito wählt mit ihrer Tonsprache hier dennoch einen gänzlich anderen Weg. Sie entwickelt in Sanctuary eine gewisse Spiritualität, ausgehend von ruhigen, sich langsam entwickelnden Klängen, die quasi ein Echo der Vergangenheit beschwören. Wie Arpeggien in Zeitlupe wirken die sich meist in einem Crescendo aufbauenden Harmonien und clusterartigen Tongebilde. Mal ist ihr Ambitus weit, mal ist er eng angelegt, mal wirken sie fest, mal wirken sie locker, teilweise auch melodienhaft. So gut wie nie entwickelt sich Sanctuary erwartungsgemäß, wobei von Entwicklung im motivischen Sinne hier kaum die Rede sein kann.
Immer wieder gibt es rhythmische, klangliche oder, wenn auch seltener, melodische Überraschungen. Diese sind jedoch nur intensiv wahrnehmbar, wenn sich der Zuhörer bzw. Interpret mit den Ohren und dem Geist ganz auf diese versunkene Reise einlässt. Und hierin liegt die Schwierigkeit und der Anspruch des Stücks: die Entwicklung einer differenzierten Klanglichkeit zuzulassen, die sich zwar der europäischen Tonsprache und Notation bedient (hier ist alles im Takt notiert), die jedoch, um sie zu erfahren, eine kontemplative Haltung voraussetzt. „However the world may change or technologies progress, this remains an unchanging foundation, one which is always my starting point. Sound has its own energies and my method is to weave them together. Sound breathes and shapes itself into a musical work.“ (www.akeminaito.com)
Spieltechnische und damit auch musikalische Schwierigkeiten ergeben sich für die linke Hand bei fünfstimmigen Klängen. Sie lassen sich nur mit einem auf der Bassseite mit großen Knöpfen ausgestatteten Instrument realisieren; oder aber man verteilt Töne der linken Hand (Bassseite) auf die Diskantseite, was dann selbstverständlich die klangliche Balance verändert. Probleme können auch die Übergänge zwischen den vielstimmigen Klängen bereiten. Hier muss der Interpret oder die Interpretin die Spannung zwischen den endenden und sich immer wieder neu aufbauenden Klängen halten – und dies auch noch mit wechselnder Intensität.
Dieses Werk geht nicht direkt auf den Zuhörer zu. Es zieht sich gleichsam zurück und provoziert so Aufmerksamkeit und Neugierde. Beste Voraussetzungen also, dem Zeitgeist nicht zum Opfer zu fallen, sondern sich in die Liste namhafter Werke der anspruchsvollen Akkordeonliteratur einzureihen.
Romald Fischer