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Rademacher, Ulrich

Schläft ein Lied in allen Dingen

Sehnsucht und Verbindung mit anderen im Lied

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 2/2018 , Seite 10

Berührend, magisch, “zauberhaft”: In Liedern eröffnet sich uns eine geheimnisvolle Welt, treten wir ein in ein “Zauberreich”, dem wir uns oftmals nicht entziehen ­können und das uns mit anderen verbindet. Gedanken von Ulrich Rademacher zur besonderen Wirkung von Liedern und Chansons.

Lieder, Songs, Chansons, Romanzen, Hymnen, Mélodies: Wo schlafen sie, wer kann sie zum Leben erwecken? Die Südkurve, ein Konzertsaal, ein bürgerliches Musikzimmer, ein Kirchentag, ein Lagerfeuer, ein „Rudelsingen“, ein Badezimmer, eine Karaoke-Bar? Sind Lieder der Stoff, aus denen große und komplexe Musik erwachsen kann? Was meinten Schumann, Bartók und Kodály, wenn sie sich immer wieder auf das „Einfache“ beziehen? Was berührt uns, wenn Mahler in seiner ersten Sinfonie mit den Wunderhorn-Liedern spielt, wenn am Ende von Mendelssohns Reformationssinfonie Ein feste Burg ist unser Gott alles vorher Gehörte krönt, wenn wir bei Beethovens Neunter nach anstrengenden, inhaltsschweren Sätzen endlich mit „Freude, schöner Götterfunken“ belohnt werden? Wenn zum Abschluss eines hochemotionalen Oratoriums ein Choral das große Ausrufezeichen markiert?
Der Titel für diesen Beitrag wurde mir lediglich als „Arbeitstitel“ gegeben. Er regte aber meine Fantasie gerade deswegen an, weil er mich offen und „unpädagogisch“ dazu verführte, in einen nur vermeintlich vertrauten Kosmos einzutauchen, überraschende Erkenntnisse zu gewinnen und Zusammenhänge zu entdecken. Joseph Freiherr von Eichen­dorffs viel zitierter Satz entstammt seinem Gedicht Wünschelrute:

Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.

Der Dichter ist hier gefragt, durch ein „Zauberwort“ ein Lied, das wie eine geheimnisvolle schöne Prinzessin „in allen Dingen“ schläft, zum Leben zu erwecken. Welch eine zauberhafte und faszinierende Aufgabe für den Dichter, den Künstler oder die Musikerin! Triffst du „nur“ das Zauberwort: Das heißt, eigentlich ist es ganz einfach, wenn man sich „nur“ wie ein Kind oder ein Künstler ein Gespür für das Wesen der Dinge, für das Ein­fache bewahrt hat. Ein ähnlicher Vierzeiler stammt von Friedrich Schlegel, als Abschluss seines Gedichts Die Gebüsche:

Durch alle Töne tönet
Im bunten Erdentraume,
Ein leiser Ton gezogen,
Für den, der heimlich lauschet.

Hier muss nicht einmal das Zauberwort getroffen werden, schon die Fähigkeit oder die Bereitschaft, heimlich zu lauschen, öffnet die Tür zum inneren Geheimnis der Welt. Robert Schumann war sehr inspiriert von dieser Vorstellung und stellte diese magischen vier Zeilen seiner Fantasie op. 17 voran, die er Franz Liszt gewidmet hatte, die aber heimlich ein leidenschaftlich sehnsüchtiges Zeugnis seiner damals noch unerfüllten Liebe zu Clara Wieck sein sollte.

Singen kommt vor allem anderen

In jeder Menschwerdung ist Singen die erste Mitteilung von Emotion und Information, vom ersten „Baby-Blubbern“ an auch erste Selbstwahrnehmung. Dann kommt irgendwann das Tanzen und Trommeln. Jedes Kind hat schon alles. Jedes Kind ist reich. Seine Stimme muss man nicht kaufen oder ausleihen und nachher wieder abgeben. Singen ist nicht „Haben“, sondern „Sein“. Singen ist zunächst keine „Kulturtechnik“, sondern ­gehört zum Menschsein wie der aufrechte Gang, wie Essen, Schlafen, Lieben. Singen ist nicht in erster Linie Vorbereitung für höhere Stufen der Kunst, sondern für sich genommen „stimmig“. Singen erschließt Quellen von Lebendigkeit, weckt die Lust daran, sich musikalisch zu äußern. Menschen, die auf dieser Basis den Wunsch verspüren, ein Inst­rument zu erlernen, wissen, was sie tun. Sie werden ihr Instrument als Erweiterungs- und Differenzierungschance für ihre stimmliche Ausdruckspalette begreifen, werden auch auf ihrem Instrument „singen“.
Singen im Sinne von „Sein“ statt „Haben“ bedeutet auch, sich als „Person“ (personare = durch und durch klingen) wahrzunehmen und anzunehmen, so wie man ist. Angesichts der Verführungen der Ver­packungs-, Verstärkungs- und Verfremdungsindustrie fällt es aber Kindern und Jugendlichen immer schwerer, die eigene Stimme zu mögen – als gut, präsentabel, schön oder gar „cool“. Wie auch im Bereich der Ernährung hat es das „Selbstgemachte“ schwer gegen das Fertigprodukt, so lieblos und wertlos es auch hergestellt bzw. zusammengesetzt sein mag.
Singen war auch in Deutschland einmal so et­was wie „Muttersprache“. Aber Begriffe wie „Mutter“, „Gefühl“ oder „Heimat“ weckten lange Zeit Assoziationen, die für die adorno-verdorbene Nachkriegsgene­ration unter Generalverdacht standen. Singen überlebte am ehesten in geschlossenen Zirkeln Gleichgesinnter wie zum Beispiel in Kirchen, in Stadien und an Lagerfeuern oder aber mit dem Kunstgriff der Entfremdung. Das war weniger suspekt: Wir sangen lieber englisch, französisch oder spanisch. Wenn deutsch, dann mit entfremdeter, kaputter Stimme.
Doch entweder haben wir den Entzug nicht länger ertragen oder wir spürten, dass wir jetzt – spätestens jetzt! – den Faden wieder aufnehmen und singen müssen, bevor uns die (Groß-)Eltern aussterben. So schreibt Jürgen Oberschmidt unter dem Titel „Es wird wieder gesungen!?“:1 „All die hier beschriebenen Beobachtungen der Feldforschung, die zu Beginn unseres Jahrtausends den Abgesang des Singens einläuten, stoßen zur gleichen Zeit auf eine musikpädagogische Kehre, die deutlich macht, dass das Singen (und inzwischen gar das Singen des deutschen Volkslieds) aus seiner Nachkriegsquarantäne entlassen scheint. […] Initiativen wie JEKISS (Jedem Kind seine Stimme), SMS (Singen macht Sinn) oder PrimaCanta suchen das schulische Angebot […] zu stabilisieren und zu erweitern. Nicht zuletzt angeregt durch Casting-Shows steigt im schulischen Bereich zunehmend das Interesse. Als Die Kinder des Monsieur Mathieu fühlen sie sich Wie im Himmel: Ob nun karaoke- oder filmsozialisiert, immer mehr junge Menschen ­äußern den Wunsch zu singen. Und auf den neuen Bundesländern lastete Adornos Schatten ohnehin nicht.“
In diese Renaissance des Singens passt der nach JEKISS zweite von Münster ausgehende Sing-Virus: das „Rudelsingen“. Anlässlich des eintausendsten Rudelsingens schrieb Gunnar A. Pier in den Westfä­lischen Nachrichten:2 „Hunderte Menschen kommen regelmäßig in deutsche Konzerthallen, zahlen zehn Euro Eintritt – und müssen dann selber singen. Klingt merkwürdig. Aber: ,Gemeinsam zu singen ist ein menschliches Grundbedürfnis‘, ist David Rauterberg überzeugt. Seit sechs Jahren lädt der Wahl-Münsteraner zum ,Rudelsingen‘. […] Im Grunde genommen ist das alles ein geselliges Lagerfeuer-Singen – nur ohne Lagerfeuer. […] Wenn David Rauterberg und seine Mitstreiter zum Rudelsingen laden, stimmen professionelle Musiker die Lieder an und begleiten den jeweiligen Chor der Besucher, der Text erscheint zum Ablesen auf einer Leinwand.“

Vier Lieder der Romantik

Im Folgenden soll anhand von vier Liedern der Romantik und zwei französischen Chansons deutlich werden, wie sehr die Dichter und Texter, Komponisten und Songwriter sowie die Interpreten unabhängig von der stilistischen oder zeitgeschichtlichen Zuordnung ihr eigenes (Er-)Leben, ihre Projektionen und Sehnsüchte als Quelle der Inspira­tion nutzten.

1 Jürgen Oberschmidt: „Es wird wieder gesungen!? ­Einige Anmerkungen zum Singen (und zum Gesang) im Musikunterricht“, in: musikunterricht aktuell 4/2016, Zeitschrift des Bundesverbandes Musikunterricht e. V., S. 10-16, hier: S. 12.
2 Gunnar A. Pier: „Lagerfeuer-Singen ohne Lagerfeuer. Das 1000. Rudelsingen“, Westfälische Nachrichten vom 27. September 2017.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 2/2018.