Gutzeit, Reinhart von

Schluss mit der Angst vor dem Risiko!

Gespräch mit Robert Levin über ­Improvisation, Komposition und lebendige Interpretation

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2016 , Seite 12

Robert Levin ist Pianist, Musikwissenschaftler, Komponist und Dirigent. Der ehemalige Harvard-Professor hat zahlreiche Mozart-Fragmente rekonstruiert und vervollständigt und mit seinen Ergänzungen von Mozarts Requiem und der c-Moll-Messe für Aufsehen gesorgt. Sein ungewöhnlich lebendiger Interpretationsstil ist in vielen Aufnahmen dokumentiert – etwa den Beethoven’schen Klavierkonzerten mit John Eliot Gardiner und dem Orchestre Révolutionnaire et Romantique. Mit Reinhart von Gutzeit unterhielt er sich über das Verhältnis von Improvisation, Komposition und Interpretation.

Die großen Komponisten früherer Zeiten wa­ren allesamt zugleich glänzende Instrumentalisten und vielfach gehörte auch Improvisation zu ihrer musikalischen Praxis. Improvisation, Komposition und Interpretation als Trias sich gegenseitig bedingender, im Idealfall befruchtender musikalischer Fähigkeiten. Es wird oft gesagt, dass im Zeitalter des Barock und der Klassik jeder gute Musiker in diesem Sinne umfassend gebildet war. Ist das eigentlich realistisch oder doch eher eine freundliche Zuschreibung?
Es ist keine freundliche Zuschreibung! Wir ha­ben ja Augenzeugen: Man denke an Dittersdorf, der sagte, dass zu seiner Zeit alle Musiker improvisieren konnten und es auch getan haben. Er sagte allerdings auch, dass nur Mozarts Improvisationen kompositorischen Wert hatten; nur bei seinen Improvisationen habe es sich wirklich gelohnt zuzuhören.

Lingua franca

Mozart fußt auf einer musikalischen Tradi­tion, in der improvisatorische Fähigkeiten eine große Rolle spielten – denken wir an die Auszierungen einer solistischen Stimme oder an ein freies, lebendiges Continuo-Spiel. Banal gefragt: Warum konnten die Musiker der Barockzeit das?
Weil sie nicht nur gute Instrumentalisten waren, sondern die musikalische Sprache ihrer Zeit beherrschten. Sie erlernten sie singend, durch intensive Studien der Harmonielehre bzw. des Kontrapunkts – schon in ihrer Kindheit und Jugendzeit. Auch mit vielen Formen, häufig Tanzformen, waren die Musiker vertraut. Die Musiksprache der Zeit war also Gemeingut – eine lingua franca – und erlaubte es den Musikern, leicht und schnell miteinan­der zu kommunizieren.
Man kann es sich ganz gut vorstellen, wenn man einen ganz anderen Musikstil aus der jüngeren Geschichte zum Vergleich heranzieht: Die Jazzmusiker pflegten in ihrer musikalischen Sprache regionale Eigenheiten, stilstisches Kolorit, aber dennoch konnte ein Jazzmusiker aus New Orleans nach Kansas City gehen oder einer von Kansas City nach Chicago oder nach New York und sie verstanden sich. Und das war eigentlich eine einheimische Sprache, eine Art Umgangssprache. Die waren ja in keiner Schule ausgebildet, sondern haben sich zusammengetan; und die Lehrlinge haben am Beispiel der Fortgeschrittenen gelernt und konnten sich schließlich dazu gesellen.
Genauso war es auch im 18. Jahrhundert: dass eben alle die Barocksprache lernten und beherrschten. Natürlich wissend, dass ein Händel etwas anderes ist als ein Telemann, als ein Couperin oder ein extravaganter Zelenka – aber man kann sich zusammenfinden. Diese Leute hätten immer zusammen improvisieren können, weil die Basis der harmonischen Abläufe, der kontrapunktischen Sprache Gemeingut war. Man konnte also mit Leichtigkeit das Flötenkonzert eines Kollegen aus einer anderen Stadt oder einem anderen Land spielen, denn das Vokabular war schon da. Und vielfach wurde vom Blatt gespielt, auch mit den Gästen, die vielleicht hinzukamen – nicht anders als bei einem Jazzkonzert im 20. Jahrhundert.
All die erstaunlichen Geschichten, die wir dazu kennen, werden verständlicher, wenn man bedenkt, dass die Musiker sich quasi „nur“ ihrer musikalischen Muttersprache bedienen mussten. Leopold Mozart berichtet von der Uraufführung des d-Moll-Klavierkonzerts, dass die Kopisten immer noch hektisch darum bemüht waren, mit Sandguss die Tinte zu trocknen, Sekunden vor dem Auftakt. Oder die Uraufführung des Don Giovanni in Prag…

Mozart als Improvisationskünstler

Damit sind wir wieder bei Mozart angekommen. Nachdem du dich lebenslang intensiv mit ihm beschäftigt hast, darf ich diese Frage stellen: Wie haben wir uns Mozart als Improvisationskünstler vorzustellen?
Nun, da haben wir natürlich zuallererst die Klavierkonzerte in den Blick zu nehmen, bei denen Mozart ja zumeist den Solopart selbst gespielt hat. Da finden wir Stellen, wo Mozart in einer langen Passage von Sechzehnteln auf einmal Halbe schreibt: Es kann keinen Zweifel geben, dass dies nichts anderes als die Außentöne für improvisierte Arpeggios sind. Aber selbst Rudolf Serkin hat noch in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts hier die notierten punktierten Halben gespielt! Ich habe das einmal mit ihm diskutiert und er rieb sich unbehaglich die Hände und sagte: „Ich weiß, dass das falsch ist, ich weiß, dass es keinen Sinn hat, aber ich kann mich nicht dazu durchringen, mit diesem heiligen Text etwas anzustellen, was mir respektlos und billig vorkommt und will dann lieber konservativ sein.“

Ist der Umkehrschluss zulässig, dass dort, wo Mozart den Notentext ausschreibt – und das ist ja ganz überwiegend der Fall –, zu spielen ist, „was da steht“?
Nein, das wäre sicher falsch. Wir wissen zum Beispiel, dass Johann Nepomuk Hummel, der ja ein Schüler Mozarts war, Hunderte, wenn nicht Tausende von zusätzlichen Tönen bei seiner Bearbeitung eines Mozart-Konzerts erklingen ließ. Hätte er das „gewagt“, wenn er von Mozart ganz anderes gewohnt war?
Ein anderes Beispiel, das man als Nachweis, ja als Beweis heranziehen kann, weil wir das Manuskript haben, sind die Auszierungen des zweiten Satzes des A-Dur-Konzerts KV 488 durch Mozarts Schülerin Barbara Ployer. Sie ist ja nicht irgendjemand aus einer anderen Stadt, die Mozart vielleicht nie erlebt hatte, die keine Ahnung hatte und ehrgeizig alles umkomponierte – nein: Barbara Ployer hat nicht nur Klavier, sondern auch Musiktheorie und Komposition bei Mozart studiert und er hat ihr nachweislich zwei Klavierkonzerte gewidmet (Es-Dur KV 449 und G-Dur 453). Und sie schreibt in ihrer Auszierung Vierundsechzigstel!
Wie groß sind die Chancen, dass Mozart, der im Autograf nur Sechzehntel und meistens Viertel und Achtel notierte, tatsächlich selbst nur Viertel und Achtel und einige Sechzehntel gespielt hat, aber seine Schülerin Vierundsechzigstel schreibt? Diese Chancen stehen bei null. Sie war doch nicht arrogant! Sie hat selbstverständlich versucht, mit bestem Willen das nachzuahmen, was sie bei ihrem verehrten Lehrer miterlebt hat; vielleicht nicht mit dem Geschmack, nicht mit dem Können ihres Meisters. Aber das ist jetzt nicht der Punkt. Es geht ja hier gewissermaßen um eine Frage der Quantität; und wenn wir wissen, was im quantitativen Sinn normal oder üblich war, können wir uns durch Stilstudien dem mozartschen Improvisationsstil durchaus annähern. Das ist nicht allzu schwer gut 200 Jahre „nach der Tat“ – es sind doch noch viele Indizien zugänglich!

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2016.