Wolters, Gerhard

Selbstbestimmtes Lernen von Beginn an

Ein schülerorientierter Instrumentalunterricht wird sich in der Pubertät auszahlen

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2018 , Seite 10

Gerade in der Pubertät bietet ein schülerorientierter Unterricht die Chance für ein kontinuierliches Lernen. Doch Schüler-Orientierung kann nicht von heute auf morgen in einer schwierigen Phase ­„herbeigezaubert“ werden, sondern muss von Beginn an die Basis des Unterrichts bilden.

Die 7-jährige Rebecca kommt aufgeregt in ihre erste Quer­flötenstunde: „Ist die Querflöte da für mich?“, überfällt sie Herrn M., ihren neuen Lehrer, noch bevor dieser „Guten Tag“ sagen kann. Zappelnd vor Aufregung steht sie vor der silbern glänzenden Flöte: „Kannst du mir die gleich zusammenbauen? Ich bin schon sooo gespannt!“ „Tut mir leid“, entgegnet Herr M., „man fängt erst einmal mit einigen Übungen auf dem Flötenkopf an, bevor man mit der ganzen Querflöte spielen kann.“ In dem kurz zuvor noch strahlenden Gesicht spiegelt sich plötzlich eine große Enttäuschung…
Welche Qualität wird das Lehrer-Schüler-Verhältnis von Rebecca und Herrn M. einige Jahre später in der Pubertät wohl haben? Mit der reflektierten Wahl einer der beiden im Folgenden beschriebenen Handlungsmöglichkeiten könnte bereits in dieser ersten Stunde die entscheidende Weiche gestellt werden.

Handlungsmöglichkeit 1
„Schön, dass du so große Lust hast, Querflöte zu lernen. Aber du musst dich noch gedulden, bis du auf der ganzen Flöte spielen kannst. Das geht so bald noch nicht!“

Handlungsmöglichkeit 2
„Ich empfehle dir, erst einmal nur mit dem Flötenkopf zu spielen, da ich sicher bin, dass du dann viel schneller schöne Töne spielen können wirst und du dich auch besser an eine gute Haltung gewöhnen kannst. Solltest du aber unbedingt gleich mit der ganzen Querflöte spielen wollen, meinetwegen… Dann beschwer dich aber spä­ter nicht, dass du wahrscheinlich viel mehr Zeit benötigen wirst, bis du einen schönen Ton spielen kannst. Vielleicht tut dir dann auch ganz bald deine Schulter weh!“

Selbstbestimmt – ­fremdbestimmt

Aus fachlicher Sicht ist die zweite Handlungsmöglichkeit eher bedenklich, die erste hingegen sowie die eingangs geschilderte Reaktion von Herrn M. korrekt. Wie sieht aber die Situation aus Rebeccas Sicht aus? Angesichts der stürmischen Begrüßung liegt die Vermutung nahe, dass ihre Vorfreude auf die silbern blinkende Querflöte bereits ­„mega“ war und sie die erste Unterrichtsstunde wohl kaum erwarten konnte. Vielleicht hat sie sich bereits am Vorabend beim Einschlafen vorgestellt, wie sie auf einer Bühne steht und ihr erstes Stück mit diesem wunderbar glänzenden Instrument spielt, für das sie sich vor ein paar Wochen während der Instrumentenvorstellung spontan entschieden hatte.
Nun steht Herr M. vor einem Dilemma: Wenn er auf Rebeccas Wunsch eingeht, fühlt er sich als „schlechter“ Lehrer, da er ja über die Konsequenzen Bescheid weiß, die zuvor in der Handlungsmöglichkeit 2 beschrieben worden sind. Also besser die fachlich-korrekte Fremdbestimmung der Lehrperson als die selbstbestimmte, aber gefährliche Version im Interesse der neuen Schülerin? Aufgrund der im Folgenden beschriebenen Erfahrungen vieler seitens unserer Akademie1 betreuten Lehrpersonen möchte ich an dieser Stelle ein Plädoyer für die Selbstbestimmung halten – also ganz bewusst für die aus fachlicher Sicht gefährlichere Variante. Den Lohn dieser mutigen Aussaat werden Sie, liebe Leserin und lieber Leser, mit großer Wahrscheinlichkeit während Rebeccas Pubertät erhalten.

1 Akademie für musikpädagogische Innovation, www.mdu.ch

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2018.