Behschnitt, Rüdiger

Singen ist Teil des Menschseins

Johannes Graulich, Verlagsleiter von Carus, im Gespräch über das „Liederprojekt“ und weshalb Singen mit ­Kindern so wichtig ist

Rubrik: Gespräch
erschienen in: üben & musizieren 3/2011 , Seite 42

Dr. med. Johannes Graulich wurde 1967 in Stuttgart geboren. Von 1989 bis 1995 studierte er Medizin an der FU Berlin und an der University of Washington in Seattle. Nach seiner Promotion in der Abteilung Kinderheilkunde der FU Berlin (1992-1995) und der  Facharztausbildung für Kinderheilkunde an der Berliner Charité  (1996-2001) trat er 2001 in den von seinem Vater gegründeten Carus-Verlag  ein, dessen Geschäftsführer und geschäftsführender Gesellschafter er seit 2003 ist. Das „Liederprojekt“ ist ein gemeinsames  Benefiz-Projekt von Carus, SWR und über 100 Künstlern. Ziel des Projekts ist es, das Singen mit Kindern zu fördern. Bekannte Konzert und Opernsänger haben hierfür mit ihren Begleitern gagenfrei Wiegenlieder und Volkslieder aufgenommen, die auf CDs, in Liederbüchern und in Klavierbänden erschienen sind. Aus dem Verkauf der CDs werden Projekte unterstützt, die das Singen mit Kindern fördern.

Lieber Herr Graulich, als der Initiator des Wiegenlieder- Projekts, der Sänger Cornelius Hauptmann, bei Ihnen anfragte, ob Sie dieses Projekt unterstützen bzw. verlegen werden, dachten Sie da nicht spontan: „Oje, noch ein Liederbuch?“

Nein, die Idee mit dem Liederbuch stand gar nicht im Vordergrund, sondern die Idee, dass die führenden deutschen Sängerinnen und Sänger die alten deutschen Wiegenlieder aufnehmen und mit neuem Leben füllen. Nein, meine erste Reaktion war: Oje, so viele Sänger! Wie soll das klappen?

Das bedeutet aber, dass der pädagogische Gedanke des Mit-Sing-Projekts zu Beginn noch gar nicht im Vordergrund stand. Wie hat sich das Projekt dann in diese Richtung entwickelt?

Das Projekt hat tatsächlich immer wieder neue Aus – richtungen erhalten, denen meist Anstöße von außen zugrunde lagen. Aber die Idee, mit dem Projekt etwas zum aktiven Singen in unserer Gesellschaft, insbesondere mit unseren Kindern beizutragen, war von Anfang an zentral. Übrigens war das auch der Antrieb der Künstler, für dieses Projekt gagenfrei aktiv zu werden. Es gibt ja fraglos sehr gelungene Lieder-CDs auf dem Markt. Konzeptionell war der thematische Schwerpunkt bei den Wiegenliedern neu, dann die Idee, dass jede Sängerin, jeder Sänger nur sein Lieblingslied singt, und schließlich, dass durch das Projekt und dem damit verbundenen Benefizgedanken zum Singen für und mit Kindern aufgerufen wird.

Da möchte ich noch einmal nachhaken: Gelungene CDs mit Kinderliedern, so sagen Sie selbst, gibt es viele; auch Liederbücher gibt es wie Sand am Meer. Und der Schwerpunkt Wiegenlieder hätte ja durchaus auch als Einschränkung empfunden werden können. Wie erklären Sie sich den überragenden Erfolg des „Liederprojekts“?

Gelungene CDs mit Kinderliedern gibt es leider überhaupt nicht viele. Das meiste was ich – jetzt auch als Vater – kennen gelernt habe, stimmt mich eher nachdenklich. Vieles ist billig produziert und musikalisch einfachst gestrickt. Gelungene Lieder-CDs sehe ich eher bei den Volks- und vor allem Kunstliedern. Aber bei den Liederbüchern haben Sie Recht, da gibt es eine große Vielfalt auf dem Markt. Das initiale Thema „Wiegenlieder“ hat dem Projekt sicherlich geholfen, da dieses Thema fast durchweg positiv besetzt ist. Mit einem Start bei den Volksliedern hätten wir uns schwerer getan. Der große Erfolg ist sicherlich auch qualitativen und strukturellen Gründen geschuldet. Beispielsweise den Mitsingfassungen zu allen Liedern, die dem Buch auf CD beiliegen und beim SWR mit einem hohen Aufwand und hervorragenden Musikern produziert wurden, allen voran der Geigerin Christine Busch. Oder die Illustrationen der Liederbücher, die nicht dem üblichen Kindchenschema vieler Kinderbücher folgen, sondern aus denen eine eigene künstlerische Sprache spricht.

Welchen Einblick haben Sie denn in den pädagogischen Erfolg des Projekts? Kommen die Lieder auch wirklich bei den Kindern an? Oder ist es nicht durchaus wahrscheinlich, dass die CDs in erster Linie von älteren Erwachsenen gekauft werden, die dieses Repertoire aus ihrer eigenen Kindheit kennen und sich nun an den hochwertigen Interpretationen erfreuen? Und sich vielleicht noch das wunderschöne Liederbuch aus bibliophiler Sammelleidenschaft ins Regal stellen?

Wir haben guten Kontakt zu vielen Initiativen, die mit den Wiegenliedern arbeiten. Zum Beispiel zu Hebammen. Kürzlich haben diese in Stuttgart gegen schlechte Arbeitsbedingungen protestiert; 500 Hebammen sangen aus dem Wiegenlieder-Buch vor dem Stuttgarter Rathaus. Dann gibt es eine Zusammenarbeit mit der WHO-Initiative „Babyfreundliche Krankenhäuser“ oder mit Kindergärten, in denen die Wiegenlieder eine zentrale Rolle spielen. Es erreichen uns beinahe täglich auch E-Mails oder Briefe, in denen private Eltern-Kind- Gruppen, Singgruppen oder Eltern und Großeltern von ihren Erfahrungen mit den Liedern schreiben. Das zeigt: Mit den qualitativ hochwertigen Materialien – Noten und Texten, CDs, den Hörfunksendungen im SWR, dem Internetauftritt etc. – können wir, Carus, SWR und die beteiligten Künstler, dazu beitragen, dass interessierte Menschen sich mit dem Thema des aktiven Singens beschäftigen. Das „Liederprojekt“ hat übrigens seit einigen Monaten einen nicht unbeliebten Facebook-Account und das Projekt twittert auch munter im Netz. Das zentrale Element der Online-Aktivitäten ist allerdings die aufwändige Website www.liederprojekt.org. Es ist sicher eine Besonderheit, dass alle Inhalte des Projekts kostenfrei zum Download angeboten werden, also Noten, CD-Aufnahmen und die Mitsingfassungen. Dieses Angebot wird stark angenommen, das zeigen die Zugriffszahlen auf dieser Seite; aber auch das hohe Interesse an dem Thema bei ZEIT-ONLINE, wo die Wiegenlieder und die Volkslieder samt Noten ebenfalls ins Netz gestellt wurden.

Stichwort Internet: Es ist schon ungewöhnlich, dass ein Verlag, der ja in erster Linie ein Wirtschaftsunternehmen ist, die kompletten Inhalte eines erfolgreichen Verkaufstitels zum kostenlosen Download im Netz anbietet. War dieser Schritt von Beginn an geplant? Und gefährden Sie damit nicht langfristig den wirtschaftlichen Erfolg des Projekts?

Das Internet gilt vielen heutzutage als Zerstörer von Kultur. Das ist sicherlich eine sehr vereinfachende und schlicht falsche Einschätzung. Da es uns beim „Liederprojekt“ in erster Linie darum geht, dass mit Kindern mehr gesungen wird, haben wir uns gemeinsam mit dem SWR entschlossen, die Inhalte des Projekts kos ten – frei ins Netz zu stellen – und zwar nicht nur als Streaming, sondern auch zum Download. Auch das ist ein wichtiger Aspekt des Benefizprojekts. Die Künstler haben ja für das „Liederprojekt“ gagenfrei musiziert und so wollen wir diese Inhalte auch bestmöglich öffentlich machen. Dass die Verkaufszahlen der Liederbücher und CDs unter dem Onlineauftritt gelitten haben, kann man sich zwar vorstellen, aber ich glaube das eigentlich nicht.

Aber steht es denn eigentlich wirklich so schlecht um das Singen? Phänomene wie Karaoke oder eine oft gescholtene Sendung wie „Deutschland sucht den Superstar“ und ihre zahlreichen Nachahmer- und Folgeprodukte auf allen Sendern zeigen doch, dass ein riesiges Interesse am Singen bei Kindern und Jugendlichen vorhanden ist. Sie interessieren sich nur eben nicht mehr für Volks- und Wiegenlieder. Was ist daran so schlimm? Geht es hier nicht vielleicht eher um die Sorge von uns Erwachsenen und um unsere Vorstellungen davon, welche Kultur zu bewahren sei?

Wenn man so will, geht es genau darum. Die Castingshows sind erfolgreiche Fernsehformate, hier müssen wir also nichts bewahren. Die Frage ist doch aber auch, welches Selbstverständnis wir unseren Kindern mitgeben. Uns geht es eher um das Singen als beurteilungsfreiem Selbstzweck. Hans Bäßler sprach hier einmal vom Singen als „Teil des Menschseins“, als Teil unserer Ausdrucksformen also. Natürlich unterstellen wir dem Singen eine Reihe positiver Nebeneffek te, etwa physischer Art, z. B. die Stimme oder Atmung betreffend, aber auch sozialer Art, z. B. in Bezug auf die Eltern-Kind-Bindung. Und Tatsache ist, dass gerade in den Familien weniger gesungen wird. Hier sehen wir den Sinn unserer Arbeit. Warum widmen wir uns dann den Volks- und Wiegen – liedern? Warum zucken wir zusammen, wenn in einer zehnten Gymnasialklasse kein Schüler mehr das Lied Der Mond ist aufgegangen kennt? Weil wir glauben, dass diese Lieder uns auch heute noch etwas zu sagen haben. Sie sind Teil unserer kulturellen Identität, Teil von persönlichen Biografien. Die Lieder wurden manchmal über Generationen gesungen und erzählen von unserer Geschichte, zum Beispiel davon, dass Leben und Tod früher oft viel näher beieinander lagen als heute.

Aus dem Verkauf der CDs und Bücher spendet der Carus-Verlag je zwei Euro an Projekte, die das Singen mit Kindern fördern. Mittlerweile sind aus dem Verkauf der Publikationen bereits 200 000 Euro an „Herzenssache e. V.“ und die Stiftung „Singen mit Kindern“ gespendet worden. Welchen konkreten Projekten kommt diese Summe zugute?

Wir haben mit diesem Erfolg der Initiative von SWR2 und Carus nicht gerechnet und freuen uns, dass durch die gagenfreie Teilnahme der Sängerinnen und Sänger am „Liederprojekt“ mittlerweile rund ein Dutzend Einzelprojekte gefördert werden können. Die Projekte sind ganz unterschiedlicher Natur. Beispielsweise wird die Ausbildung von Singe-Paten in Kindergärten gefördert, im Grundschulbereich wird die Neugründung von Kinderchören ermöglicht, aber auch mehr therapeutisch orientierte Ansätze werden verfolgt – wie musiktherapeutische Angebote für traumatisierte Kinder in einem psychotherapeutischen Kinderheim; und zwei Projekte konzentrieren sich auf die gezielte musikalische Förderung von sozial benachteiligten Kindern. Da das „Liederprojekt“ noch einige Zeit läuft, werden wir hoffentlich noch weitere Initiativen mit Spenden unterstützen können.

Auch kulturpolitisch scheint in jüngster Zeit für das Singen wieder mehr getan zu werden: In Münster und Neuss gibt es schon seit Längerem die Projekte „Jedem Kind seine Stimme“, in Frankfurt am Main macht „Primacanta“ von sich reden. Und im Oktober 2010 ging in Baden-Württemberg das Landesförderprogramm „Singen – Bewegen – Sprechen“ an den Start. Sehen Sie hier einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel hin zu einer neuen positiven Einstellung gegenüber dem Singen mit Kindern?

Ja, ich denke, dass sich hier eine neue Bewusstheit einstellt. Wir machen uns ja intensiv darüber Gedanken, wie Säuglinge optimal ernährt werden, und haben höchste Ansprüche an Babynahrung. Ich wünsche mir, dass sich dieser Anspruch auch beim Thema Singen für und Singen mit Kindern immer mehr einstellt. Das zentrale Ziel ist es, dass früh, also im Säuglingsalter – idealerweise schon in der Schwangerschaft – Eltern mit ihren Kindern singen. Dann werden die Kinder von alleine das Singen für sich entdecken und ein Leben lang nicht mehr davon lassen wollen.

Carus ist auch an einem bundesweiten Print- und Online-Projekt „Singen mit Kindern“ be teiligt, das demnächst starten soll. Worum geht es dabei?

Die Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover wird gemeinsam mit der Landesakademie für die musizierende Jugend in Baden-Württemberg in Ochsenhausen und dem SWR Elternbriefe entwickeln, die sich speziell an den Fragen und Erwartungen der Eltern orientieren. Diese Elternbriefe sollen das Thema „Musik und Kinder“ aufgreifen und orientieren sich dabei an den kindlichen Entwicklungsstufen. Das Projekt versteht sich nicht kommerziell, und die Briefe sollen daher im Internet kostenfrei abrufbar sein, aber auch in gedruckter Form vorliegen. Zu den Briefen im Internet gehören Noten, Audiodateien und kleine Filme, eben alles, was den Eltern Mut macht, mit ihren Kindern zu singen und zu musizieren. Das Ganze soll auch im Hinblick auf die großen Migrantengruppen in Deutschland ausgerichtet sein und wissenschaftlich begleitet werden. Derzeit werden die ersten Briefe vorbereitet, und wir sind schon sehr gespannt auf die Resonanz.

Herr Graulich, zum Abschluss unseres Gesprächs natürlich die nahe liegende Frage: Was und wie oft singen Sie mit Ihren Kindern zuhause?

Unsere beiden Kinder Marie (6) und Elias (4) singen beide sehr gerne, mit uns Eltern, aber auch allein. Sie sind glücklicherweise in einem Kindergarten, in dem entgegen dem allgemeinen Trend sehr viel gesungen wird – die Leiterin achtet auf altersgerechte Lieder und richtige Tonhöhen. Wir singen zuhause immer abends beim Zubettgehen, aber auch tagsüber oft nebenher, beispielsweise bei langen Autofahrten. Die Kinder haben zurzeit Spaß daran, die Liedtexte immer wieder umzudichten und eigene Strophen zu erfinden, das läuft dann beim Spielen nebenher. Hauptsächlich singen wir alte Kinder- und Volkslieder, aber natürlich nicht nur. Die Kinder singen selbst Lieder in anderen Sprachen gerne und können sich deren Texte viel besser merken als der Vater.