Hoos de Jokisch, Barbara

Singende Engel und Damenkapelle

Zum Bezug zwischen Stimme und Instrument – zwei ­Darstellungen von Agostino di Duccio (1418-1481) und Max Beckmann (1884-1950)

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 1/2023 , Seite 48

Anhand zweier Werke aus dem Bereich der bildenden Kunst will ich mich der Komplexität der menschlichen Singstimme nähern und das Verhältnis von Stimme und Musikinstrument beleuchten. Dies geschieht aus der Überzeugung heraus, dass Kunstwerke implizites Wissen1 über Mensch und Welt enthalten, aus dem sich Anregungen für den Vokal- und Instrumentalunterricht ergeben können.
Aus dem rosafarbenen steinernen Halbrelief der Frührenaissance des italienischen Bildhauers Agostino di Duccio (1418-1481) treten zwei jugendliche Gestalten hervor. Die Gesichter sind einander zugewandt, die Münder zum Singen leicht geöffnet; über den Köpfen werden Flügel sichtbar. Die Engel halten drei überaus plastisch herausgearbeitete Musikinstrumente in ihren Händen: ein Schellentambourin, eine Laute und eine Art Sackpfeife. Deren Blasebalg schlingt sich dem rechten Engel wie ein Lorbeerkranz um den Hals. Erst bei genauerem Hinsehen wird erkennbar, wer von beiden Engeln welches Instrument spielt. Alles scheint in Bewegung zu sein, zu fließen und zu strömen – die Flügel, die langen, gelockten Haare, die Gewänder. Die beiden Engelsgestalten und ihre Instrumente sind so dicht ineinander verflochten, dass sie eine Einheit zu bilden scheinen.
Singende und musizierende Engel durchziehen die christliche Kunstgeschichte seit ihren Anfängen. Die beiden singenden Engel aus Perugia spielen gleichzeitig drei Musik­instrumente: ein Blas-, ein Saiten- und ein Schlaginstrument. Wie können wir diese Abbildung verstehen? – Engel gelten in der mittelalterlichen Ikonografie als Repräsentanten der himmlischen Sphärenmusik, der „musica divina“, die einst Welt und Mensch hervorgebracht hat. Die Engel singen den Lobpreis Gottes – zunächst ganz ohne Instrumente. Erst im 11. Jahrhundert dringt die „musica ins­trumentalis“ aus der Welt der Spielleute in den Bereich der Engelchöre ein, zuerst mit Blas- und Saiteninstrumenten, später auch mit Schlaginstrumenten. Aus singenden Engeln werden Instrumentenengel. „Der Klang himmlischen Lobgesanges ist durch irdische Klangwerkzeuge, durch Musikinstrumente sichtbar gemacht. Die Instrumente stehen ein für Gesang.“2
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ringen stimmphysiologische Forschung und gesangspädagogische Tradition um ein übereinstimmendes Verständnis der Singstimme. Heute besteht allgemein Konsens darin, die Stimme als einen Verbund von drei Funktionsbereichen zu bezeichnen: einem atem- und energiegebenden, einem stimmerzeugenden und einem klangformenden. Zwerchfell, Kehlkopf und Ansatzräume bilden ein komplexes System, dessen einzelne Bereiche beim Singen synergetisch zusammenwirken.

1 siehe Polanyi, Michael: Implizites Wissen, Frankfurt am Main 1985 (1. Auflage 1966).
2 Hammerstein, Reinhold: Die Musik der Engel. Untersuchungen zur Musikanschauung des Mittelalters, München 1962, S. 219.

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