Saint-Saëns, Camille
Six Études pour piano
Premier livre op. 52/Deuxième livre op. 111
Konzertetüden für Klavier sind seit Frédéric Chopin viele komponiert worden. Sie bieten eine anregende Auseinandersetzung mit weiterführender pianistischer Technik und sind für alle fortgeschrittenen KlavierspielerInnen interessant – vor allem, wenn sie gut klingen.
Die vorliegende Ausgabe der Etüden von Camille Saint-Saëns hält sich, was den Notensatz betrifft, an die vom Komponisten selbst durchgesehene Originalausgabe der Edition Durand. Die beiden Hefte enthalten jeweils sechs Etüden: op. 52 (erstmals erschienen 1877) und op. 111 (1899). Neu sind die ausführlichen, hervorragend recherchierten Einleitungstexte, welche auf die Entstehungsgeschichte der Etüden, die Widmungsträger, die Rezeption und Interpretation der Werke eingehen. Das ist, verglichen mit der in dieser Hinsicht eher spärlichen französischen Originalausgabe, vorbildlich. Die Texte werfen nicht nur ein lebendiges Bild auf die Entstehungsgeschichte, sondern geben interessante Einblicke in manche zugrunde liegenden musikalische und pianistische Ideen.
Alles, was das Pianisten-Herz sich an romantischer Spieltechnik wünscht, findet man in den Etüden wieder. Neben Arpeggien und Akkordtechnik sind es vor allem Repetitionstechniken und rasche Terzbewegungen, große und kleine, in op. 111 Nr. 5 sogar gekoppelt mit Chromatik. Diese steht auch in der an einen Hummelflug erinnernden Traits chromatiques im Fokus.
Der Komponist schrieb im März 1899 an seinen Verleger: „Gott, sind diese Etüden schwer zu spielen! Man muss behände wie ein Kaninchen über die Tasten sausen können, um sich an sie heranzuwagen! Wenn ich allen Mut zusammennehme, schaffe ich es vielleicht, sie mehr schlecht als recht zu spielen.“
Einige dieser Etüden haben sich bald im Konzertsaal bewährt: vor allem die von Alfred Cortot oft gespielte Etude en forme de valse oder die fast schon impressionistisch anmutende Les Cloches de Las Palmas. Die fulminante Toccata über das Finale aus Saint-Saëns’ fünftem Klavierkonzert ist ein virtuoses Kabinettstück. Die Unabhängigkeit der Finger, trainiert durch wandernde Stimmen im Akkordspiel, thematisiert die Etüde Pour l’indépendance des doigts und die Étude de rythme sorgt in ihrer ostinaten Polyrhythmik für ein meditatives Klangbild.
Drei Etüden sind als „Prélude et fugue“ komponiert. Dies zeigt, dass dem Komponisten nicht nur an einer ausgefeilten pianistischen Technik und einem ausgeprägten romantischen Klangsinn gelegen war, sondern dass das polyfone Spiel ebenso Bedeutung hat. Präludium und Fuge in f-Moll op. 52 Nr. 3 hat Saint-Saëns selbst bevorzugt in Konzerten gespielt. Die Intervall-Repetitionen des Präludiums erinnern dabei an eine Toccata und das „Animato“-Thema der Fuge in seiner Beweglichkeit und kunstvollen Verarbeitung sorgt für ein farbiges, äußerst attraktives Klangbild. Diese Neuausgabe der zwölf Etüden ist sehr zu empfehlen.
Christoph J. Keller