Raff, Joachim

Six Morceaux

für Violine und Klavier op. 85, hg. von Severin Kolb und Stefan Kägi

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 2022
erschienen in: üben & musizieren 2/2023 , Seite 62

Joachim Raffs „Cavatina“ ist bis heute berühmt: Ihr Thema ist auf der G-Saite zu spielen und reicht bis in die 7. Lage hinauf. Das Stück ist voll romantischer Sehnsucht und höchster Leidenschaft, die schließlich im Doppelgriffspiel des Schlussteils mit den chromatisch modulierenden Akkorden den Boden unter den Füßen verliert. Die „Cavatina“ zählt zur gehobenen Salonmusik, zu deren „Cultivierung“ sich Raff bekannte. 1862 veröffentlichte er die „Cavatina“ und fünf weitere Stücke als Six Morceaux. Jahre später erzielte er mit der Uraufführung seiner 3. Symphonie seinen Durchbruch und wurde von nun an zur „ersten Riege der zeitgenössischen Komponisten“ gezählt, wie im informativen Vorwort zur Urtext-Ausgabe der Six Morceaux des Verlags Breitkopf & Härtel steht.
Die Stücke gehen von einfachen, populären Formen aus: Die Fähigkeit der Violine, ohne Worte zu „singen“, ist in der bereits erwähnten „Cavatina“ und in der „Canzona“ gefordert. Die „Marcia“ stellt dem strengen Marschrhythmus und den etwas marzialischen Akkorden eine lyrisch tändelnde Melodie in einem synkopischen Rhythmus gegenüber. Die „Pastorale“ setzt den 6/8-Rhythmus und eine Dudelsackmelodie ein, um ein romantisches Hirtenbild zu malen, in das im Mittelteil flirrende Sechszehntel impressionistische Tonmalerei einfügen. Das „Scherzino“ fordert in Violine und Klavier gleichermaßen höchste Schnelligkeit und die abschließende „Tarantella“ lässt die Ausführenden in ekstatischem Rhythmus und größter Virtuosität miteinander musizieren.
Die Six Morceaux sind Miniaturen, die GeigerInnen und PianistInnen gleichermaßen fordern und zwar sowohl in technischer wie in musikalischer Hinsicht. Einige Stücke wie die „Marcia“ und die „Pastorale“ sind in ihren Anforderungen nicht so hoch. Doch die meistern verlangen eine ausgefeilte Griff- und Lagentechnik der linken Hand und eine flexible Beherrschung der verschiedenen Stricharten mit der rechten Bogenhand. Gewiss, man könnte das Thema der „Cavatina“ auch nicht nur auf der G-Saite spielen. Aber dann würde diese Komposition ihren eigentlichen Reiz verlieren. Und das „Scherzino“ sowie die „Tarentella“ wirken vor allem in möglichst schnellem Tempo. So sind diese Stücke besonders für fortgeschrittene SpielerInnen und für den Konzertsaal geeignet. Wer sie studiert, kann die Grenzen seines Spiels erweitern. Freude an den Melodien, Rhythmen und Klängen werden beide Ausführenden auf jeden Fall haben.
Die Ausgabe beruht auf dem Erstdruck. Sie übernimmt die dort eingezeichneten Fingersätze, Stricharten und dynamischen Angaben. Der ausführliche kritische Bericht gibt Hinweise zum Verständnis des Notenbildes und zum editorischen Befund in den Quellen. So legen die beiden Herausgeber Severin Kolb und Stefan Kägi den InterpretInnen einen Notentext in die Hand, der für eine werkgetreue Aufführung bestens informiert.
Franzpeter Messmer