Aydintan, Marcus / Krämer, Laura / Spatz, Tanja (Hg.)

Solmisation, Improvisation, Generalbass

Historische Lehrmethoden für das heutige Musiklernen

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Olms, Hildesheim 2021
erschienen in: üben & musizieren.research 2022

 

Musiktheorie verbindet

Wie historische Lehrmethoden zum Vorbild eines umfassenden Musizierenlernens werden können


Rezension zu:
Aydintan, Marcus / Krämer, Laura / Spatz, Tanja (Hg.) (2021). Solmisation, Improvisation, Generalbass. Historische Lehrmethoden für das heutige Musiklernen. Hildesheim: Olms Verlag. 212 Seiten. 58,00 €, ISBN 978-3-487-16019-9

Rezensent: Ivo I. Berg
Rezension veröffentlicht am: 06.04.2022

1. Musiktheorie an der Schnittstelle zur künstlerischen Praxis

Solmisation, stilgebundene Improvisation und Generalbass sind künstlerische performative Handlungsweisen: Eingebettet in einen musikalischen Kontext zeigen sich ihre Eigenschaften und Bedeutungen im gemeinsamen Singen und Musizieren, das sukzessive geübt und verfeinert werden kann. Indem sie ein auf Tonbeziehungen gerichtetes, sinnerschließendes Hören einfordern und vokale wie instrumentale (Körper)Techniken an musikalisch-syntaktische Vorgänge koppeln, bilden sie Schnittstellen zu einem strukturellen Verstehen von Musik. Diese Schnittstellen zwischen inspirierter künstlerischer Praxis und prozeduralem Wissen und Können auszuloten, könnte man als eines der Kernanliegen des vorliegenden Sammelbandes, herausgegeben von Marcus Aydintan, Laura Krämer und Tanja Spatz, bezeichnen.

Der Titel des Buchs ist also weniger im Hinblick auf musikhistorisch zu rekonstruierende Lehrmethoden zu verstehen. Im Mittelpunkt steht vielmehr die im Untertitel genannte Perspektive eines „heutigen Musiklernens“, dessen möglicherweise neu zu formulierende Paradigmen sich anhand von historischen Methoden exemplifizieren lassen: „Vokalimprovisation als Lehrmethode“ kann in diesem Sinn – so Almut Gatz – als „historischer Glücksfall“ angesehen werden, zeigt sie doch die konkret nachvollziehbare Perspektive einer „ganzheitlichen musikalischen Ausbildung“, in der „Fähigkeiten praktisch und sehr nachhaltig erlernt und als implizites Wissen verinnerlicht werden“ (Gatz, S. 64).

2. Im Dienst eines allgemeinen „musikalischen Sprachvermögens“

Die damit einhergehende didaktische Aufarbeitung und Aufwertung der drei Praxen lässt auch das Selbstverständnis des Fachs Musiktheorie in seinen Zielsetzungen nicht unberührt: Heutige Musiktheorie soll „für die Musikausbildung vor und außerhalb der Hochschule noch stärker fruchtbar gemacht werden“ (Krämer, S. 164). Als Leitbild fungiert dabei eine Form des Musiklernens, die für die Zeit vor dem 19. Jahrhundert in Anspruch genommen wird. Eine musikalische Ausbildung also, in der nicht allein die „Wiedergabe vorgefertigter Notentexte“ (Krämer, ebd.) im Mittelpunkt steht, sondern von Beginn an mit Solmisation und Improvisation ein „musikalisches Sprachvermögen“ (Brandes, S. 15) initiiert wird, das sich in Fähigkeiten eines eigenständigen Umgangs mit Musik offenbart: „Einfache Melodien vom Blatt zu singen oder aufzuschreiben, […], schlichte harmonische oder formale Verläufe zu erkennen und […] auf dem Klavier darzustellen, ein Kinderlied rudimentär zu begleiten, Musik nachzusingen oder nachzuspielen und improvisatorisch fortzuführen, aus dem inneren Hören heraus oder mit Hilfe des Instruments kleine Kompositionen zu verfassen“ (Brandes, ebd.).

Mit Blick auf das Ganze des Buchs lässt sich dementsprechend feststellen, dass an keiner Stelle die vermeintlich richtige Theorie zur Analyse von Werken im Mittelpunkt steht. Vielmehr scheint es stets um einen zwar historisch informierten, aber vor allem didaktisch aufbereiteten Zugriff auf syntaktische Phänomene der Musik zu gehen. Das Leitbild eines „musikalischen Sprachvermögens“ bringt es zudem mit sich, dass der Wirkungskreis der Musiktheorie nicht mehr allein im „Elfenbeinturm“ (Brandes, S. 10) der Hochschule gesehen wird. Der gesamte Bereich einer musikalischen Elementarförderung im Sinne einer „allgemeinen Musiklehre“ (Brandes, S. 14) in den verschiedenen Institutionen von allgemeinbildender Schule, Musikschule, Privatunterricht und Chorwesen gerät damit in den Blick.

Nicht zuletzt impliziert eine solche Ausrichtung und Öffnung des Fachs auch eine Ausweitung des Tätigkeitsbildes von Lehrenden der Musiktheorie: Sollen die Bereiche von Solmisation, Improvisation und Generalbass in der genannten Weise fruchtbar werden, so müssen Lehrende selbst zu Improvisierenden, Singenden und Solmisierenden werden, die Ensembles zusammenstellen, Proben leiten, Auftritte vorbereiten (Gatz, S. 66) und sich dem Anspruch eines lebendigen Musizierens stellen, der stellenweise auch das strenge Regelwerk in den Hintergrund treten lassen kann (Krämer, S. 55, 59).

3. Auf der Suche nach einer lerntheoretischen und fachdidaktischen Fundierung

Auffallend ist dabei, dass immer wieder Anschluss an weitere Richtungen und Tätigkeitsfelder der Musikpädagogik (z. B. Elementare Musikpädagogik, Instrumentalunterricht, Chorleitung) gesucht wird und die eigene Fragerichtung zunehmend lerntheoretische Züge erhält: So finden sich in mehreren Beiträgen Verweise auf die Music Learning Theory Edwin Gordons und die Forschungsarbeiten Wilfried Gruhns zu den Voraussetzungen und Implikationen eines sequenziell aufbauenden, musiksprachlichen Lernens (vgl. die Beiträge von Brandes, Stahmer, Krämer und Spatz). Juliane Brandes schließlich steuert am Ende des Buchs eine umfassende Bibliografie einschlägiger Artikel der Zeitschrift üben & musizieren seit ihrer Gründung im Jahr 1984 bei.

Diesem umfassenden Anliegen gemäß präsentiert sich das Buch als Resultat eines mehrjährigen Forschungs- und Fortbildungsprojekts, das von 2017 bis 2020 an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover unter der Leitung der drei Herausgeber:innen durchgeführt wurde.[1] Das Projekt umfasste zwei flankierende Tagungen – zu „Musiklehre“ 2017 und zu „Solmisation“ 2019 –, die durch Gastworkshops zur historischen Improvisation sowie eigene Fortbildungsveranstaltungen ergänzt wurden. Teil des Konzepts war die Initiierung eines Lehrenden-Netzwerkes unter dem Motto „Musiktheorie verbindet“ (Vorwort, S. 7), aus dessen Kreis die 13 Beiträge von insgesamt zehn Autor:innen des nunmehr vorliegenden Sammelbandes stammen.[2]

Liest man das Buch in der oben entwickelten Perspektive einer Öffnung und möglicherweise auch Neuorientierung des Fachs Musiktheorie in Richtung einer Schnittstelle zur künstlerischen Praxis, wird deutlich, dass ein solch umfassendes Anliegen nicht zugleich auch den Anforderungen eines wissenschaftlichen Forschungsprozesses gerecht werden kann. Juliane Brandes etwa sieht ihren einleitenden Beitrag eher als „essayistische“ Auseinandersetzung und bezieht sich ganz bewusst auf persönliche Erfahrungswerte (Brandes, S. 9). Gleichwohl scheinen mit Blick auf ein mögliches Weiterverfolgen der Grundintention des Bandes auch in einer eher forschungsorientierten, wissenschaftlichen Lesart einige Aspekte bedenkenswert.

Gerade im Beitrag von Brandes, die sich den grundlegenden Aufgaben der Musiktheorie widmet, fällt auf, dass die eigene Positionierung durch eine vermeintlich defizitäre Gesamtlage legitimiert wird: Bewerber:innen in Aufnahmeprüfungen an Musikhochschulen werden als unzureichend ausgebildet dargestellt (selbst das Singen einer Kuckucksterz gelänge vielfach nicht, vgl. Brandes, S. 12), man befinde sich in Zeiten „schwindender hobby-musikalischer Betätigung“ (ebd., S. 9) oder „in der Schule […] wird immer noch zu sinnentleerten und spröden Methoden gegriffen“ (ebd., S.12). Solche Äußerungen sind meist leicht ins Gegenteil zu kehren (zu denken wäre an die langen Wartelisten an Musikschulen des VdM oder die jüngste Studie des Deutschen Musikrats zur äußerst lebendigen und beeindruckend großen Szene des Amateurmusizierens[3]). Zudem werden sie bereits durch die Beiträge des Sammelbandes konterkariert, die ja gerade innovative Ansätze aus der Schulpädagogik präsentieren. Vor allem aber verdecken sie den Blick auf die Potenziale und spezifischen Fähigkeiten der Musizierenden und Bewerber:innen an Musikhochschulen, die nicht selten außerhalb eines klassischen Gehörbildungskanons liegen. Wäre diese vermeintliche Bestandsaufnahme ohnehin nicht notwendig, um die eigene Zielsetzung zu begründen, so offenbart sie zwischen den Zeilen eine möglicherweise überkommene Sicht auf das eigene Fach, die letztlich auch den geäußerten Intentionen im Weg stehen könnte: Wird doch festgestellt, „dass die musikalische Jungend(aus-)bildung nicht selbstverständlich in eine hochschulische/akademische Musikausbildung zu münden vermag“ (Brandes, S. 10). Ob dies überhaupt der Anspruch des Lehramts Musik sein kann oder sein sollte, mag dahingestellt sein. Die Förderung von Musiktheorie im Sinn einer Elementarförderung für alle müsste sich wohl von diesem Leitbild lösen können.

Eine weitere Kritik – ebenfalls von Brandes vorgetragen – richtet sich auf die Gepflogenheiten und Traditionen der Musiktheorie als Lehrfach: Immer noch könne man interessierten Musikpädagog:innen kein Buch über Gehörbildung und Musiktheorie empfehlen (Brandes, S. 18), immer noch würden Kolleg:innen einen je eigenen Lehrgang generieren, ohne sich an verfügbarem Lehrmaterial orientieren zu können (ebd., S. 19). Leider lässt sich diese Feststellung auch auf die Beiträge des vorliegenden Bandes beziehen: Es finden kaum substanzielle Bezugnahmen auf bereits vorhandene Ansätze im Fach statt. Im Themenbereich Improvisation werden bereits vorliegende Arbeiten zur Vokalimprovisation (cantare super librum) und zur Improvisation über Ostinatobässe allenfalls in Fußnoten erwähnt, ohne dass die dort vorgestellten Methoden dargestellt, diskutiert und produktiv einbezogen würden. Dass die Solmisation bereits in den 1970er Jahren fundiert in die Didaktik der Musiktheorie eingeführt wurde (Hohlfeld & Rauhe, 1970) und die Perspektive eines musiksprachlichen Lernens in der Musiktheorie in den 1980er Jahren eben in üben & musizieren anhand von Solmisation und Ostinatobässen erarbeitet wurde (Möllers, 1986, 1989), bleibt gänzlich unberücksichtigt. Dass der umfangreiche und gerade auf die Verknüpfung von Improvisation und historischer Satzlehre zielende Lehrgang Ulrich Kaisers (Kaiser, 5. Aufl., 2009) in diesem Kontext nicht diskutiert wird, erstaunt.

Manche der Beiträge präsentieren sich in dieser Hinsicht lediglich als unkritische Darstellung der eigenen Unterrichtspraxis, die ohne Verweise auf andere Ansätze und ohne Anknüpfung an übergreifende Fragestellungen auskommt (vgl. Olga Tchipanina zum eigenen Unterrichtskonzept im VIFF Hannover; vgl. Valerie Schnitzer zum eigenen Unterrichtsmodell der Gesangsklassen). Aber auch in den diesbezüglich ausführlicheren Beiträgen fällt auf, dass die fachdidaktische Diskussion sich auf vermeintlich erfolgreiche Methoden konzentriert und die didaktisch häufig viel ergiebigere Frage nach denjenigen Schüler:innen, die einem Konzept weniger gut folgen konnten oder sogar seine Fortsetzung nicht wünschten, kaum oder gar nicht gestellt wird (vgl. Gatz, S. 74f.; vgl. den Beitrag von Stahmer insgesamt). Insbesondere an diesen Übergängen zwischen Fachdidaktik und musikalischer Entwicklungspsychologie könnte sich der im Buch zwar angedeutete, aber noch nicht gänzlich eingeschlagene Weg eine Anbindung an andere Wissensbereiche bewähren. Zu denken wäre hier an die von Edwin Gordon inspirierten und von Wilfried Gruhn teils neurobiologisch fundierten lerntheoretischen Begriffe von „prozeduralem“ und „deklarativem Wissen“, von „figuraler“ und „formaler Vorstellung“ sowie „Audiation“ (Gruhn, 2005, S. 65–68, S. 201–206). Deren Einbezug könnte dabei helfen, die von Gatz eingehend geschilderten Anforderungen einer künstlerischen Hörpraxis etwa beim vokalen Improvisieren von Kanontechniken (Gatz, S. 65) in ihren hörpsychologischen Voraussetzungen exakter bestimmen und aufkommende Schwierigkeiten besser auf individuelle Lernwege von Schüler:innen beziehen zu können. Ob ein an syntaktischen Regeln orientiertes Improvisieren dabei als „produktiver Widerstand“ (Berg, 2014, S. 210) erfahren wird oder im Gegenteil auf Schüler:innen exkludierend wirkt, wäre vor dem Hintergrund dieser Kategorien didaktisch besser aufzugreifen.

4. Impulse für eine umfassende Musizier- und Unterrichtspraxis

Jenseits dieser Kritikpunkte finden sich zahlreiche interessante und innovative Ansätze, die den Grundintentionen einer verknüpfenden Lehre – auch über den Musiktheorieunterricht hinaus – gerecht werden. Friederike Stahmer stellt in ihrem Beitrag vor, wie sich Grundprinzipien der Music Learning Theory Edwin Gordons und die daraus hervorgehenden Methoden des tonalen Pattern-Trainings in die Probenarbeit mit Kinderchören eingliedern lassen. Stimmbildung, solmisationsgestützte Hörschulung und Anbahnung des Blattsingens auf der Grundlage von zuvor auditiv verinnerlichten Tonbeziehungen gehen in ihrer Adaption von Gordons Theorie Hand in Hand. Eine solch stringente Elementarförderung – so könnte man im Lesen folgern – würde eine ideale Voraussetzung bilden, um auch eine avancierte Chorarbeit mit improvisatorischen Elementen des cantare super librum aus dem 15. und 16. Jahrhunderts zu ermöglichen, wie sie im weiteren Verlauf von Laura Krämer und Almut Gatz vorgestellt wird.

Im Beitrag von Gatz wiederum beeindruckt nicht nur die facettenreiche Einbettung dieser Techniken in den Umgang mit Chorliteratur: „Improvisieren sowohl von freien Kanons als auch von freien Stimmen über Loops aus kanonischen Gerüststimmen, Verwendung der Hexachordsolmisation sowie der Einbau von improvisierten ‚Inseln‘ in bestehende Musik“ (Gatz, S. 61). Indem sie diese vermeintlich nur spezialisierten Sänger:innen vorbehaltenen Techniken in ein Unterrichtsprojekt an einer allgemeinbildenden Schule transferiert, deutet sie an, wie anhand des gut überschaubaren historischen Stilzusammenhangs die dahinterstehenden Musizierformen und Fähigkeiten gewinnbringend in jede Chorarbeit einfließen könnten.

Michael Spieker stellt mit seinem Beitrag über Ostinatobässe bei Diego Ortiz eine Improvisationsform vor, die schon lange in der instrumentalpädagogischen Literatur verankert ist (u. a. Möllers, 1989; Maute, 2005) und die zuletzt von Martin Erhardt in umfassender Weise methodisch-didaktisch aufgearbeitet wurde (Erhardt, 2011). Mit Erhardt gehört Spieker allerdings zu einer neuen Generation von Spieler:innen der ,Alte-Musik-Szene‘, die diese und viele weitere Formen auch in Improvisationskonzerten und einschlägigen Festivals künstlerisch präsentieren.[4] Vor diesem professionellen Spielhintergrund zeigt Spieker zahlreiche Möglichkeiten und Strategien des Übens anhand von Diminutionsformeln auf, die jedem Instrumentalunterricht gut zu Gesicht stünden. Aus seinem detaillierten Umgang mit den aufgeschriebenen Improvisationsbeispielen bei Ortiz geht darüber hinaus hervor, wie ein auf Improvisation zielender Zugang zur Musik auch das Lesen und Interpretieren bereichern kann.

Die Solmisation als universelles Hilfs- und Verknüpfungsmittel einer hörbasierten Musiktheorievermittlung durchzieht alle Beiträge des Bandes. Tanja Spatz bezieht sich in ihrem Text auf das historische Solmisationssystem John Curwens aus dem 19. Jahrhundert und stellt zunächst dessen mehrstimmige Notationsform in reinen Solmisationssilben vor. Da anhand dieser Notation auch komplexere Harmonik wiedergegeben werden soll, muss das zunächst nur diatonische Grundmodell der siebenstufigen Skala adaptiert werden. Curwen bedient sich dabei eines ‚modulierenden‘ Systems, indem er bei Änderung des tonalen Zusammenhangs die Töne an den jeweiligen Schnittstellen in zwei alternativen Solmisationssilben angibt: dem zuvor gesungen und sodann modulierend dem kommenden Zusammenhang entsprechend. Spatz wendet dieses Prinzip der bridge-tones (Curwen) auf die Höranalyse harmonischer Verläufe im Lieder Irrlicht aus der Winterreise Franz Schuberts an. In dieser Anwendung der Solmisation – die wiederum ihren Vorläufer in Formen des Solmisierens früher modaler Musik hat (Berg, 2021, S. 26–30) – zeigt sich zum Abschluss des Bandes nochmals eine bemerkenswerte Öffnung des Fachs: Hören ist hier, so könnte man folgern, nicht mehr eine Sache des exakten Identifizierens in den Kategorien ‚richtig‘ und ‚falsch‘. Ab wann ein tonaler Bezug fassbar, voll etabliert oder doch nur gleichsam auf der Schwelle zu erahnen ist, hängt vom subjektiven Hörvollzug ab. Solmisieren als performativer Akt koppelt diesen Vollzug an das sinnliche Wahrnehmen im Singen und Erklingen: „Probieren Sie beide Varianten einmal aus – welche der beiden fühlt sich am natürlichsten an?“ (Spatz, S. 160).

5. Ausblick

Der vorliegende Sammelband lässt sich gemäß dem übergreifenden Motto „Musiktheorie verbindet“ in unterschiedlichen Perspektiven lesen und gewinnbringend weiterdenken: Als Bewegung des Fachs Musiktheorie in Richtung musikpädagogischer Fragestellungen von Vermittlungswegen und lerntheoretischer Fundierung; als Ansatz zu einer Verknüpfung von syntaktischen Hörweisen mit künstlerischen Improvisationstechniken; als Impuls zu einer Erweiterung der Unterrichtsinhalte in Schule, Chor und Instrumentalunterricht um ebenso kreative wie das Verstehen fördernde Umgangsweisen mit Musik. Entsprechend zu diesen möglichen Öffnungen des Fachs eignen sich die Beiträge für ein breites Zielpublikum. Sie enthalten vielfältige methodische Anregungen, die auch jenseits des Unterrichts in Musiktheorie umsetzbar sind.

Die genannten Perspektiven lassen sich jedoch weitaus radikaler auch als ein Infragestellen klassischer Lernfelder und Fächerstrukturen verstehen: Nicht im Sinn eines Zurück zu einem vermeintlich ursprünglichen Zustand der Ungeschiedenheit eines ‚musiksprachlichen Lernens‘, sondern als zukunftsweisende Lehr- und Lernperspektive, die sich von einer überkommenen Trennung der Fächer und Inhalte verabschiedet und Kompetenzen eines umfassenden Musizierens in neuen Vermittlungsformaten zusammenführt (vgl. hierzu Erhardt, 2017). Solche Überlegungen könnten etwa in der Weiterentwicklung musikpädagogischer Studiengänge zu neuen Impulsen führen.

[1] Dieses Gesamtkonzept des Buchs erschließt sich vor allem dann, wenn man dem entsprechenden Hinweis im Vorwort folgend direkt in den abschließenden Artikel Laura Krämers springt.
[2] Da die zweite Tagung getrennt publiziert wurde und ebenfalls erst 2021 erscheinen konnte, scheint eine Bezugnahme auf diesen Folgeband (Welte & Riemer, 2021) nicht mehr möglich gewesen zu sein.
[3] https://themen.miz.org/amateurmusikstudie (14.01.2022)
[4] https://www.improfestival-leipzig.de/ (11.02.2022)

Literaturverzeichnis
Berg, I. I. (2021). Von der Hand in den Mund? Guido von Arezzos Methode der Solmisation zwischen pragmatischer Zielsetzung und didaktischer Tiefenschärfe. In A. Welte & F. Riemer (Hg.), Agnes trifft Guido. Relative Solmisation in der musikalischen Bildung (S. 13–35). Hannover: Institut für musikpädagogische Forschung.
Berg, I. I. (2014). Musikalische Spannung. Grundlagen und Methoden für den Instrumentalunterricht, Essen: Die Blaue Eule.
Erhardt, M. (2017). Jenseits von Theorie und Praxis. Wie alte Musizierprinzipien die Begriffe des modernen Fächerkanons überwinden können. In J. Arnecke (Hg.), Praktische Musiktheorie (S. 155–169), Hildesheim: Olms.
Erhardt, M. (2011). Improvisation mit Ostinatobässen aus dem 16. bis 18. Jahrhundert. Magdeburg: Edition Walhall.
Gruhn, W. (2. Aufl., 2005). Der Musikverstand. Neurobiologische Grundlagen des musikalischen Denkens Hörens und Lernens. Hildesheim: Olms.
Hohlfeld, Chr., Rauhe, H. (1970). Grundlagen der Musiktheorie. Methodisch-praktische Elementarlehre. Wolfenbüttel: Möseler.
Kaiser, U. (5. Aufl., 2009). Gehörbildung. Satzlehre, Improvisation, Höranalyse. Ein Lehrgang in historischen Beispielen. Grundkurs. Kassel: Bärenreiter.
Maute, M. (2005). Blockflöte & Improvisation. Formen und Stile durch die Jahrhunderte. Eine Anleitung. Kassel: Bärenreiter.
Möllers, Chr. (1986). Üben ohne Noten. üben & musizieren 6/1986, 520–529.
Möllers, Chr. (1989). Analyse durch Improvisation. Chaconnebässe der Barockzeit als Improvisationsmodelle, üben & musizieren 2/1989, 73–86.
Welte, A., R. Riemer (Hg.). Agnes trifft Guido. Relative Solmisation in der musikalischen Bildung, Hannover: Institut für musikpädagogische Forschung.

Ivo Ignaz Berg
Universität der Künste Berlin
Fasanenstraße 1B
10623 Berlin
E-Mail: i.berg@udk-berlin.de
Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie des Musizierens (Energetik, Gestik, Embodiment), Gesellschaftspolitische Dimensionen von Musikpädagogik, Geschichte der Instrumentalpädagogik, Aufführungspraxis früher und zeitgenössisch-experimenteller Musik