Kapustin, Nikolai

Sonata No. 3 op. 55 / Sonata No. 7 op. 64 / Sonata No. 13 op. 110

for Piano

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2014
erschienen in: üben & musizieren 1/2015 , Seite 55

Der Komponist und Jazzpianist Nikolai Girshevich Kapustin wurde 1937 in Horlivka/Ukraine geboren und lebt seit seinen Stu­dienjahren in Moskau. Er hat zahlreiche Klavierwerke komponiert: neben sechs Klavierkonzerten allein zwanzig Klaviersonaten, Suiten, Präludien und Fugen, Variationen und einige Etüden. In seinen Kompositionen verknüpft Kapustin Jazz-Idiome, vor allem des Jazz der 1960er und 1970er Jahre, mit Formen und Kompositionsstrukturen der klassischen Moderne.
Die drei in diesem Jahr veröffentlichten Klaviersonaten geben einen sehr guten Einblick in Kapustins Klangsprache. Er nimmt die Sonatenform nicht als dialektische Auseinandersetzung von These, Antithese und Synthese, sondern als instrumentales, meist virtuos gestaltetes Klangstück mit jeweils vier kontrastierenden, manchmal recht umfangreichen Sätzen. Sie sind anspruchsvoll zu spielen, liegen aber pianistisch gut in der Hand.
Kapustins Klangsprache ist gekennzeichnet durch Elemente der erweiterten Tonalität. Häufig gibt es Anklänge an den späten Skrjabin, so schon im Lento narrante der dritten Sonate von 1990 und dem Adagio lugubre der siebten Sonate von 1991 mit seinem ausdrucksvollen, rezitativisch geführten Gesang, und im Minuetto derselben Sonate, wo es im Mittelteil im 5/4-Takt eine kurze Paraphrase über den Skrjabinschen Prometheus-Akkord gibt.
Quartharmonik, Tritonusgänge und erweiterte Sus-Akkorde prägen das jederzeit jazzgetönte, farbenreiche Klangbild der Sonaten. Der Klaviersatz ist durchzogen von einer rhythmischen Polyfonie, welche eine vollkommene Unabhängigkeit der Hände verlangt. Die beiden virtuosen Schlusssätze – in der dritten Sonate ein Vivace mit ostinatem Bewegungsdrang, in der dreizehnten (2003) ein Animato – zeigen das in vorbildlicher Form. Letztgenannter breitet sich in schier unendlichen Sequenzen und Modulationen aus. Die vielen Imitationen des Themas fließen oftmals in orgelpunktartige Harmoniekulminationen oder der Harmonieaufbau geschieht rückwärtig, indem der Grundton erst gegen Ende der Figur gespielt wird.
Das schon erwähnte Minuetto der siebten Sonate ist kompositorisch besonders gelungen: Die sich aufschwingende, synkopisch-tänzerische Melodie wird kunstvoll verarbeitet und erscheint immer wieder in neuen Modulationen und Klangfarben.
Kapustin verwendet das ganze Klangspektrum des Flügels. Das führt manchmal, wie beim Alleg­retto der siebten Sonate, durch den vollgriffigen Akkordsatz zu einem an Rachmaninow erinnernden Klangbild oder wie beim ersten Satz der dreizehnten Sonate zu einem transparenten, aufgelockerten, leichtfüßigen Satz im a piacere.
Die drei konzertanten Sonaten, denen leider Vorwort und biografische Angaben fehlen, richten sich an Klavierstudierende und PianistInnen, die Freude daran haben, verspielt-virtuose Werke zwischen klassischer Moderne und neuem Jazz zu entdecken.
Christoph J. Keller