Mayer, Emilie

Sonate D-Dur

für Klavier

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Furore, Kassel 2021
erschienen in: üben & musizieren 4/2022 , Seite 63

Was erwartet man von einem Klavierlehrer des frühen 19. Jahrhunderts, wenn seine Schülerin die ihr vorgelegten Übungen allzu freizügig interpretiert? Wohl einen Ordnungsruf, sich diszipliniert an den Notentext zu halten. Doch Carl Heinrich Driver, im mecklenburgischen Friedland ansässig, reagierte zum Glück genau gegenteilig. Er ermunterte die mit musikalischer Fantasie begabte kleine Emilie Mayer, ihre eigenen Stücke zu schreiben, und ebnete damit den Weg für eine der wenigen Komponistinnen-Karrieren im 19. Jahrhundert.
Die 1812 geborene Emilie Mayer nahm ab 1841 Kompositionsunterricht bei Carl Loewe in Stettin und später bei Adolph Bernhard Marx in Berlin. Bald trat sie erfolgreich mit eigenen Werken in die Öffentlichkeit und widerlegte das verbreitete Vorurteil, komponierende Frauen könnten allenfalls die kleinen Formate von Klavierstücken und Liedern bewältigen. Acht Sinfonien schrieb Emilie Mayer im Laufe ihres Lebens, dazu zahlreiche Kammermusikwerke, wobei Violinsonaten, Klaviertrios und Streichquartette ebenso vertreten sind wie Klavierquartette und das Streichquintett. Trotz zahlreicher Erfolge zu Lebzeiten wurde Mayers Schaffen nach ihrem Tod im Jahre 1883 zunächst vergessen. Doch manches ist inzwischen wieder diskografisch oder in Noteneditionen zugänglich, Letzteres vor allem dank der Publika­tionstätigkeit des Kasseler Furore-Verlags.
Bei Furore ist nun auch eine D-Dur-Klaviersonate Emilie Mayers erschienen, bei der es sich aufgrund stilistischer Kriterien um eine frühe Arbeit der Komponistin handeln dürfte. In seiner Schreibart – mit viel schlichten Alberti-Bässen und Rokoko-Verzierungen – weist das dreisätzige Werk auf die Zeit Haydns und Mozarts zurück, wenn auch der Klaviersatz im Tonraum und in der Vollgriffigkeit geweitet wird. Einem Allegro con spirito in Sonatenform (mit unkonventioneller Reprise der Themen in umgekehrter Reihenfolge) lässt die Komponistin ein Andante cantabile in dreiteiliger Liedform folgen sowie ein Rondo-Finale, das als Scherzo betitelt ist. Spieltechnisch zeigt die Sonate weitgehend mittleren Schwierigkeitsgrad und eignet sich für fortgeschrittene KlavierschülerInnen. Freilich: Unversehens tauchen im Mittelsatz schnelle Passagen und Auszierungen auf, die wesentlich geläufigere Finger verlangen, als bis dahin gefordert.
Was man vermisst: Im Vorwort der Edition wird zwar Mayers Lebenslauf beschrieben, doch erhält man keinerlei Information zur Quellenlage und zur Editionspraxis dieser D-Dur-Sonate. Sicher, dies ist eine Ausgabe für den Gebrauch, bei der nicht unbedingt ein kritischer Bericht zu erwarten ist. Aber beim Durchspielen stößt man etwa in Takt 52 des Mittelsatzes auf eine Fragen aufwerfende Stelle. Ein ­Dominantseptakkord ohne Terz scheint aus dem harmonischen Rahmen zu fallen: fehlt da nicht ein gis in der linken Hand (das zudem nach der Stimmführung zu erwarten wäre)?
Gerhard Dietel