Saint-Saëns, Camille

Sonate für Violoncello und Klavier D-Dur

Erstausgabe, Urtext, hg. von Denis Herlin

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Bärenreiter, Kassel 2017
erschienen in: üben & musizieren 6/2017 , Seite 53

„Ich bin nicht wie Mozart, der seine Konzerte auf Reisen in einem Wagen komponierte“, bemerkt der fast achtzigjährige Camille Saint-Saëns 1913 in einem Brief an seinen Verleger und erbittet Zeit zur Vollendung einer Cellosonate. Der greise Meister, einer der produktivsten Komponisten seiner Epoche, scheint mit dem Werk gehadert zu haben. Monate später schreibt er, wiederum an den Verleger Durand, er habe die Sonate beiseite gelegt, sei aber zuversichtlich, sie zu gutem Ende bringen zu können. Schließlich habe seine Quelle, die seit 60 Jahren sprudele, „das Recht, nicht mehr ganz so ergiebig zu sein“.
Das hier erstmals veröffentlichte Werk verdankt seine Entstehung dem Cellisten Pierre Destombes. Entzückt von dessen Vortrag der Romance aus seiner zweiten Cellosonate beabsichtigte Saint-­Saëns, Destombes und dessen Frau, der Pianistin Jeanne Carruette, die neue Sonate zu dedizieren. Als „vergleichsweise leichtes Duo“ schätzte der Komponist sie ein, „kein Schwergewicht wie die zweite, die zwar eines meiner Glanzstücke ist, aber vielen Leuten doch Angst einjagt“.
Saint-Saëns’ dritte Cellosonate ist unvollendet. Der Kopfsatz, ein mehr als 500 Takte umfassender Sonatensatz, liegt vollständig vor. Einem frisch und klar formulierten, ein wenig herrisch auftretenden D-Dur-Hauptthema steht ein lyrisches G-Dur-Seitenthema gegenüber, das im Nachgang sogleich eine motivische Verknüpfung mit dem Hauptthema aufweist. Nach elaborierter Durchführung und Reprise mündet der Satz unmittelbar in das anschließende E-Dur-Andante. Dieses beginnt mit einem in Hornquinten aufsteigenden Thema in berückendem Quasi-Naturton.
Der Charakter des Satzes lässt sich mit dem Begriff Delikatesse treffend beschreiben: Perlende Läufe im Klavierdiskant, Pizzicatopassagen des Cellos und nicht zuletzt ein originelles Seitenthema im 7/8-Takt prägen das Bild. Die thematische Disposition deu­tet auf eine weiträumige Anlage hin, doch nach 82 Takten bricht das Manuskript ab.
Hinsichtlich der technischen Anforderungen kann man der Beurteilung, es handle sich um ein „leichtes Duo“, weitgehend zustimmen: Der Cellopart erreicht zwar einzelne Spitzentöne in der zweigestrichenen Oktave, doch al­lerorten herrscht Kantabilität. Weder Sechzehntelpassagen noch vertrackte Doppelgriffe „stören“ den Gesang. Auch der Klavierpart erfordert keine hypertrophe Virtuosität.
Große Zweifel sind angebracht an der Argumentation des Herausgebers, Saint-Saëns habe das Werk durchaus vollendet und es sei 1919 durch den Cellisten Joseph Hollman in dieser Version uraufgeführt worden. Den zitierten Brief des Komponisten an Pierre Aguétant scheint Denis Herlin schlicht falsch verstanden zu haben. Es bleibt: ein Torso, der gleichwohl den altersweisen Saint-Saëns at his best zeigt. SpielerInnen mit Interesse für die Nischen und Winkel des Repertoires sei das Werk unbedingt ans Herz gelegt.
Gerhard Anders