Naumann, Sigrid

Spielräume – Spielregeln

Klavierstücke improvisierend erforschen

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 6/2014 , Seite 32

Die Verknüpfung von Literaturspiel und Improvisation im Klavier­unterricht kann für beide Lernfelder Gewinn bringen. Die Lernenden schauen dem Komponisten gleichsam über die Schulter. Durch eigenes Ausprobieren begreifen sie (im Wortsinne) sowohl die für das jeweilige Stück geltenden Gesetzmäßigkeiten als auch die sich daraus ergebenden musikalischen Spielräume. Für das Literaturspiel bedeutet dies einen Zuwachs an Verständnis und Sicher­heit, während die Improvisationen davon profitieren, dass schon eine musikalische Idee vorliegt. Der Wunsch, die eigenen Ideen wiederholbar zu machen, führt dann oft in einem weiteren Schritt zur Komposition.

Für diese Zielsetzung eignen sich vor allem solche Stücke, die ihre jeweilige Gesetzmäßigkeit exemplarisch darstellen: klar erkennbar und zugleich musikalisch interessant. Zielt man auf Improvisation, so sollte die zugrunde liegende Spielform leicht in die Finger gehen und nach kurzer Übung ein freies Spiel erlauben. Bei einer Kompositionsaufgabe ist das weniger wichtig. Außerdem sollte das Stück den SchülerInnen gefallen oder zumindest ihre Neugier wecken. Die folgenden Beispiele haben sich in meinem Unterricht bewährt.1

Vom Bordun zur freien Begleitung

Bekanntlich war die mündlich tradierte Volksmusik des Balkans eine der wichtigsten Inspirationsquellen für Béla Bartóks Komponieren, und so findet man bei ihm viele ­Stücke, die von der Dudelsack-Begleitung geprägt sind. Allerdings selten in reiner Form, denn Bartók konfrontiert die tradierten Modelle mit seinem modernen musikalischen Denken. Dieser spannungsvolle, für seine persönliche Musiksprache wesentliche Dualismus prägt bereits seine kleinen Stücke für AnfängerInnen und begründet deren besonderen Rang innerhalb der pädagogischen Literatur.
Eine reine Dudelsack-Begleitung begegnet uns im Stück „Auf südslawische Art“ aus dem zweiten Band des Mikrokosmos. Die linke Hand wechselt beständig zwischen dem Grundton E und der Quinte, dazu spielt die rechte Hand eine mixolydische Melodie. Die Tonart ist für den Hörer erst im Mittelteil der kleinen ABA’-Form zu erkennen, denn Bartók bringt, der pädagogischen Anlage des Mikrokosmos entsprechend, in diesem Band nur Phrasen im Umfang einer Handlage. Im A-Teil sind es die ersten fünf Töne der Skala (bis hierher könnte es also auch E-Dur bzw. Ionisch sein), und erst im B-Teil, der die Stufen drei bis sieben umfasst, erscheint die charakteristische mixolydische Septime.

1 Alle in diesem Artikel vorgestellten Beispiele finden sich in ausführlicher Form in: Sigrid Naumann: Spielräume – Spielregeln, Wiesbaden (im Druck, Frühjahr 2015). Interessierte LeserInnen seien auch auf die folgenden Titel hingewiesen: Herbert Wiedemann: Klavier spielend begreifen, Kassel 2010, Herbert Wiedemann/Detlef Pauligk: Improvisatorische Spiele mit Kabalewski & Co, Kassel 2000, Barbara Heller: Intervallbuch für Klavier (mit Spielanregungen von Sigrid Naumann), Wiesbaden 2006.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 6/2014.