Gerzabek, Michael

Sprachspiel Gesangsunterricht

Von den Schwierigkeiten, Unterrichtskonzepte zu verbalisieren

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2011 , Seite 46

Im Unterricht und in Berufen, die das beratende Gespräch pflegen, ist die empirische Untersuchung realer, im Setting verwendeter Sprache schon lange Bestandteil re­flexiven Reper­toires. Sie wird in der Pädagogik in die systematische Weiterent­wick­lung von Fachdidaktik und Methodik einbezogen. Die Instrumental- und speziell die Gesangspädagogik warten bisher noch darauf, diesbezüglich aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt zu werden.

Man nehme das lebende Exemplar eines Homo ludens – das konkrete Geschlecht spielt für das Gelingen unseres Gedankenexperiments keine nachweisliche Rolle; ja, man könnte fast sagen, die Ergebnisse sind im ­besten Fall für beide Konfigurationen bedrü­ckend: schön und unter die Haut gehend –, statte es zu gleichen Teilen mit einem fühlenden Herz, einer weiten Seele und mit wachem Verstand aus, zeige ihm, wie es Luft sanft und in einheitlichem Fluss aus seinen Lungen über seine Stimmbänder streichen lasse (im Vertrauen darauf: „weniger ist mehr!“), lehre es die Kunst der geschmeidigen Artikulation, auf dass es Worte aus Sprachen aller Herren Länder lautmalerisch und eindringlich zu imitieren vermag, allen voran italienische – und voilà: schon singt es!
Nun, zugegeben, ganz so einfach ist es nicht. Die Zubereitung obigen Rezepts beansprucht für gewöhnlich Jahre. Wie auch die Ausbildung zur Gesangspädagogin neben einigen Jahren formaler Schulung eine intensive Einarbeitungszeit erfordert. In dieser Zeit verändert sich ihre im Unterricht verwendete Sprache meist grundlegend.

Vom Untersuchungs­gegenstand zur Ikone

Aber halt! Nicht so schnell. Ist es nicht ein gewaltiger Schluss zu implizieren, meine Gesangslehrerin Lisa spräche heute, nachdem sie jahrelang erfolgreich jungen Männern wie mir das Singen beibrachte, anders über das Singen als zu Studienzeiten? Wie kann ich das behaupten? Wie damit einen Erkenntniswert sichern? Und selbst wenn ich es für Lisa tatsächlich empirisch darlegen könnte, würde es denn auch auf Brigitte zutreffen?
Im allgemeinen Verständnis wird Wissenschaft als Schaffen von Wissen durch Forschung verstanden. In der geschichtlichen Entwicklung haben sich im Laufe mehrerer Jahrhunderte unterschiedliche wissenschaftliche Bereiche etabliert, die je spezifische Forschungsmethoden generiert haben. Kernelement in den Natur- und Sozialwissenschaften ist die Konzeptualisierung von Sach- und Handlungszusammenhängen durch Hypothesenbildung (und deren Falsifikation; auf diese wird in diesem Text nicht weiter eingegangen).
Dabei kann man sich Konzeptualisierung ganz einfach an einem konkreten Beispiel vorstellen: Jemand analysiert mittels Magnet­resonanztomografie (MRT),1 wie sich die Stimmbänder verschiedener Probanden beim Singen eines Schubert-Liedes verhalten. Im Laufe seiner Untersuchung treten ihm mannigfaltige Phänomene vor Augen. Viele ähneln einander, manche sind einzigartig. Er stellt eine Liste dieser Phänomene zusammen und benennt jedes einzeln. Er ist sich bewusst, wie wichtig diese Benennung ist. Ringt um Worte. Lässt mitunter die Sprache feiern.2 Warum er das macht? Er impliziert: Mittels Sprache sind Wesen, Dinge und Sachverhalte präzise, eindeutig und klar – und damit auch verständlich – darstellbar. Das hat er als Kind gelernt, als er sprechen lernte. Das hat er in der Schule gefestigt, als er in unzähligen Situationen selbst oder als Beiwohner in Prüfungssituationen in Sprachverwendung abgerichtet wurde.3 Für ihn als Wissenschaftler steht viel auf dem Spiel: Im bes­ten Fall kann er eine Ikone schaffen – eine Verbalisierung, die von der Forschungs­gemeinde angenommen wird. Das würde er daran erkennen, dass andere WissenschaftlerInnen in ihrem Schaffen auf seine Erkenntnisse Bezug nehmen. Damit hätte er mit seiner Konzeptualisierung für einen Erkenntniszuwachs gesorgt und den Diskurs, das heißt Forschung und Lehre, um einen Detailaspekt bereichert.
An diesem Punkt treffen wir Lisa wieder, die gemeinsam mit KommilitonInnen ihre Ausbildung zur Gesangslehrerin macht und von der Konzeptualisierung von Brust- und Kopfstimme, von modalem und pfeifendem Register, von Stütze, vom Decken, von Maske, Sitz und vielen anderen Konzepten hört, die – nach dem Dafürhalten der Lehrkräfte – den klassischen Kunstgesang und sein Werden charakterisieren. Diese Charakterisierung deckt sich zwar nicht mit dem, was Lisa in Hospitationen sieht und hört. Das ist in diesem Stadium für sie jedoch nicht von Belang. Die Institution schreibt diese Lehrveranstaltungen vor. Was zählt sind die Scheine. Also lernt sie, was vorgegeben wird.
In Summe scheint alles klar und überprüfbar: Verwenden wir dieselben Worte, so sprechen wir dieselbe Sprache. Zeugnis, Abschluss – Berufspraxis. Mit dem staatlichen Zertifikat in der Tasche macht sich Lisa auf und eröffnet in ihrer Heimatgemeinde ein Gesangsstudio. Bald finden sich lernfreudige SchülerInnen und die Arbeit beginnt.

Worte waren ­ursprünglich Zauber4

Fassen wir noch einmal zusammen, worauf Lisa zu diesem Zeitpunkt zurückgreifen kann: Die eindringlichsten Erkenntnisse stammen aus den Erfahrungen eigener Gesangsstunden – Lisa lernt Singen. Als nächstes kommen die unzähligen Gespräche mit Freundinnen und Freunden zum Thema Singen dazu. Darunter fallen Reflexionen über eigene Fortschritte, Reflexionen über in Hospitationen Beobachtetes und ästhetische Gespräche über Vorbilder. Diese Gespräche orientieren sich mit hoher Wahrscheinlichkeit an den theoretischen Konzepten der in der Institu­tion gelehrten Diskursausschnitte. Sie bilden die gemeinsame Gesprächsbasis der werdenden PädagogInnen! Schließlich stehen dann noch Eindrücke aus Hospitationen und eventuell von Gesangsstunden, die Lisa während der Studienzeit selbst abgehalten hat, als Erkenntnisquellen zur Verfügung.
In dem Augenblick, in dem Albert, ihr neuer Schüler, durch die Türe kommt, ist sie siegessicher. Sie weiß, was zu tun ist. Sie fühlt sich kompetent. Erst als sich in der Arbeit immer wieder vollkommen neue Situationen ergeben, als die ihr bekannten Übungen bei Albert so gänzlich andere Ergebnisse zeitigen und die von der Ausbildung her bekannten Zauberworte gar keine Wirkung zeigen, kommt es ihr vor, als stünde sie vor einer verschlossenen Tür, für die sie keinen passenden Schlüssel zur Hand hat.

Glitschige Planken über einen Sumpf

Es treten vermehrt Situationen auf, in denen Lisa zumindest zwei Handlungsoptionen klar vor Augen treten. Option eins besteht darin, es noch einmal zu versuchen und akribisch zu überprüfen, woran es liegt, dass der angewandte Ansatz nicht aufgeht und die erwarteten konzeptualisierten Phänomene ausbleiben. Auch wenn sie bereits alle ihr eingängigen Dimensionen wieder und wieder kontrolliert hat – irgendwo muss etwas sein, das sie übersehen hat.
Ihre zweite Option ist ein wenig radikaler: Sie müsste anerkennen, dass diese Übung, diese Methode, dieser Weg nicht für jeden Menschen gleich gut geeignet ist, und einen anderen suchen. Es würde auch bedeuten, Neuland zu betreten. Nach einer Phase der Ungewissheit entscheidet sie sich für die zweite Option – wie mit ihr viele andere Gesangslehrende auch. Sie überschreitet die glitschigen Planken über einen Sumpf der Bedeutung gesangswissenschaftlicher und
-pädagogischer Begrifflichkeiten und landet nach einer Phase der Läuterung sicher an einem Ende, wo sie, wieder festen Boden unter den Füßen, fürderhin auf wesentliche Konzepte des gesangswissenschaftlichen Diskurses völlig verzichten kann.
Was bleibt, ist ein fahler Nachgeschmack, der vor allem dann spürbar wird, wenn sie sich in Gegenwart früherer KollegInnen befindet. Ist er darauf zurückzuführen, etwas nicht oder nicht ganz oder nicht richtig verstanden zu haben? Dazu vielleicht das Unbehagen, sich in fachlichen Diskussionen durch offene, ehrliche Fragen unter Umständen eine Blöße zu geben?

Worte haben nichts von ihrer Zauberkraft verloren

Lisas Entscheidung für die zweite Option ­verwandelt ihren Gesangsunterricht in eine ­Oase der Freude – und wird für uns mit einem Schlag zu einem diskursiven Phänomen. Wenn sich für bestehende Konzepte wie z. B. die oft zitierte Stütze keine „eineindeutige“ Definition mehr verbalisieren lässt, wird die Schulung derselben zu einer ausgesprochen delikaten Angelegenheit. Jede einzelne Stunde steht ab nun für sich allein und ist geprägt durch das Aufeinandertreffen zweier Individuen, die im Hier und Jetzt einen für den Aspiranten hilfreichen Weg, vielleicht sogar nur den nächsten Schritt – oder gar nur den nächsten Mikro-Schritt!? – in Bezug auf gerade eben, gestern, vorige Woche und in Vorwegnahme von in drei Minuten, morgen, der kommenden Stunde, der im nächsten Monat, aushandeln und gemeinsam gehen.5
Dieser Unterricht ähnelt in seiner Qualität dem, den Lisa von ihren Hospitationen in der Ausbildung kennt. Er hat die Eigenschaft, hervorragend zu funktionieren. Die SchülerInnen lernen, die PädagogInnen folgen ihrem Instinkt und handeln intuitiv, kreativ und kompetent. Alle sind glücklich – allen ist geholfen.
Ein Manko hat die Situation insgesamt jedoch: Der Gesangsunterricht selbst entzieht sich bis heute wissenschaftlichem Zugriff. Gut, wir wissen, wir können SängerInnen schulen, sodass sie erfolgreich internationale Karrieren in Angriff nehmen. Wir wissen sehr viel über Bereiche der Stimmwissenschaft, die im gesangspädagogischen Diskurs eigentlich Randbereiche sein sollten. Im Grunde genommen haben wir jedoch gar keinen echten gesangspädagogischen Diskurs. Oder kein ausgeprägtes gesangspädagogisches Selbstverständnis?
Wäre es nicht an der Zeit, für ein ebensolches zu sorgen? Ist es nicht an der Zeit zu schauen, wie wir einen wissenschaftlichen Zugriff zu konkret stattfindendem Unterricht zu Wege bringen können? Was würden wir verlieren? Was gewinnen? Wie würden Sie es angehen?

1 Die Magnetresonanztomografie ist ein bildgebendes Untersuchungsverfahren aus der Medizin. „[Es wird] magnetische Resonanz der Atomkerne des Gewebes auf ein Hochfrequenzfeld gemessen und mithilfe des Computers schichtweise abgebildet.“ Heidrun Jantscher: Das „A“ und „U“ des Singens. Untersuchung über die Bedeutung der Kehlkopfmuskeln für den Klang der Singstimme, Dissertation, Wien 2009, S. 120 f.
2 „Denn die philosophischen Probleme entstehen, wenn die Sprache feiert.“ (§38) Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt am Main 2003. Ersetze „philosophisch“ durch „pädagogisch“.
3 „Das Lehren der Sprache ist […] kein Erklären, sondern ein Abrichten.“ (§5) Wittgenstein, a. a. O.
4 in Anlehnung an den gleichlautenden Buchtitel von Steve de Shazer, den dieser in Anlehnung an eine Vor­lesung von Sigmund Freud wählte: „…Worte waren ­ursprünglich Zauber“. Lösungsorientierte Therapie in Theorie und Praxis, Dortmund 1996.
5 „Es darf nichts Hypothetisches in unsern Betrachtungen sein. Alle Erklärung muss fort, und nur Beschreibung an ihre Stelle treten.“ (§109) Wittgenstein, a. a. O.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 3/2011.