© Paula Dickmann

Bach, Christian

Stabile Gruppe

Unterrichtspartnerschaften am Klavier: eine Ermutigung

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 5/2019 , Seite 50

„Der Trend geht zur Einergruppe!“ – So formulierte es Thomas Grosse vor nunmehr elf Jahren in dieser Zeit­schrift.1 Und wie steht es heute um den Gruppenunterricht? Finden sich ermutigende Beispiele, namentlich im Fach Klavier?

Schon während meines klavierpädagogischen Hochschulstudiums hat mich Gruppenunterricht in Theorie und Praxis sehr interessiert. Nun, im Berufsleben angekommen, ist mein Interesse fast noch größer geworden. Welche Möglichkeiten tun sich auf? Welche Erfahrungen liegen vor? Im Gespräch mit der Musikschullehrerin Paula Dickmann werden einige wesentliche Aspekte des Gruppenunterrichts deutlich. Ein bemerkenswerter Gesichtspunkt kristallisiert sich dabei heraus: die Idee der „stabilen Gruppe“.
Paula Dickmann arbeitet als hauptamtliche, festangestellte Musikschullehrerin am Peter-Cornelius-Konservatorium der Stadt Mainz. Sie unterrichtet EMP-Gruppen mit zwölf Kindern, Klaviergruppen mit zwei oder drei Kindern bzw. Jugendlichen, Klaviergruppen mit vier bis sechs Erwachsenen und – zur Ergänzung der Palette – eine Reihe von Einzelschülerinnen und -schülern. Wie sie selbst sagt, hat sie sich den Gruppenunterricht durchaus „auf die Fahne geschrieben“; das Reagieren auf unvorhergesehene Situationen, wie sie gerade für den Gruppenunterricht typisch seien, bereite ihr immer wieder Freude.
Paula Dickmanns jüngstes Arbeitsfeld sind Erwachsenengruppen. Diese werden nicht nur von AnfängerInnen besucht, sondern auch von WiedereinsteigerInnen, die ihre Klavierkenntnisse auffrischen wollen. Zunächst wird vor allem nach Gehör gesungen und gespielt; das Schreiben und Lesen von Noten tritt allmählich hinzu.
Oft heißt es, die Erteilung von Gruppenunterricht sei aufreibend und frustrierend. Dickmann kann das sehr wohl nachempfinden: „Selbstverständlich hat das individuelle Arbeiten im Einzelunterricht seine eigene Qualität. Aber die viele Vorbereitungszeit, die ich in den Gruppenunterricht stecke, auch die Frustrationen, die ich erlebe, werden immer wieder durch das Glück des gemeinsamen Lernens und Musizierens aufgewogen.“ Wäh­rend Einzelunterricht Gefahr laufen kann, von der Lehrkraft dominiert zu werden, kommt der Input im gelungenen Gruppenunterricht von allen Seiten und wird mit umso größerer Experimentierfreude aufgegriffen. So gesehen, bereichert Partner- und Gruppenunterricht die Beteiligten.

Fünfzehn gemeinsame Musikschuljahre

„In allen meinen EMP-Kursen singen und solmisieren wir und spielen regelmäßig Tasteninstrumente: in der Früherziehung Keyboard, im Aufbaukurs auch Klavier“, so Paula Dickmann. „Kinder, die in den Klavierunterricht wollen, sagen mir das. Ich kann in Ruhe schauen, wer wahrscheinlich zu wem passt, und kann Zweier- und Dreiergruppen zusammenstellen, die nicht zu homogen und nicht zu heterogen sind – sowohl für interessierte Kolleginnen und Kollegen als auch für mich. Mal zieht eine Familie weg, mal entdeckt ein Kind ein anderes Instrument für sich. Dennoch habe ich schon mehrmals erlebt, dass Unterrichtspartnerschaften viele Jahre lang und sogar bis ans Ende der Schulzeit bestehen. Ich sehe, wie das Musizieren am Klavier, das Improvisieren und Vom-Blatt-Spielen, die Kammermusik in den unterschiedlichsten Besetzungen, im Idealfall auch das Üben Teil des Lebens werden, und ich sehe, welche Chance darin liegt, gemeinsam durch die Pubertät und durch schwierige Zeiten zu kommen. Deshalb finde ich stabile Gruppen wertvoll.“
Ein Beispiel einer „stabilen Gruppe“ aus jüngerer Zeit sind die Unterrichtspartner A. und D., die zunächst die Musikalische Früherziehung und den Aufbaukurs besuchten und dann bis zum Abitur gemeinsam Klavierunterricht hatten – das macht fünfzehn gemeinsame Jahre. Im Kontext der Musikschule ergaben sich viele Gelegenheiten, ergänzende Erfahrungen zu sammeln. So standen die beiden im Mittelpunkt studentischer Hospitationspraktika oder führten – zusammen mit Schülerinnen und Schülern einer Blockflötenklasse – eine Bearbeitung von Sergej Prokofjews Peter und der Wolf auf. „Solche Ereignisse stärken den Kindern und Jugend­lichen zuverlässig den Rücken, und der Blick über den Tellerrand tut gerade langjährigen Unterrichtspartnern gut. Überhaupt sind innere Zusammenarbeit und innere Durchlässigkeit wesentliche Faktoren für den Erfolg einer Musikschule.“

Vielfalt statt Einfalt

Nach Momenten befragt, die A. und D. rückblickend in den Sinn kommen, fällt ihnen sofort eine Klavierstunde ein, in der sie das Menuet aus Claude Debussys Petite Suite, das am Klavier noch nicht so recht klappte, gemeinsam mit der Lehrerin dreistimmig sangen. Die Liste der Musik, die sie gespielt haben, umfasst neben Prokofjew und Debussy auch Werke von Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Chopin, Alkan, Brahms, Satie, Ligeti und Pärt. Daneben fand regelmäßig Filmmusik ihren Platz (zum Teil in vereinfachten Arrangements nach dem Motto „Worum geht es, was braucht es, was braucht es nicht?“), etwa Die fabelhafte Welt der Amélie oder Fluch der Karibik. A. und D. haben Tonleitern, zerlegte Akkorde und Kadenzen studiert, über Quintfallsequenz, Pachelbel-Sequenz und lateinamerikanische Grooves improvisiert, Weihnachtslieder begleitet, Leadsheets angefertigt, Klangexperimente durchgeführt, harmonische und formale Analysen skizziert und Stücke von CD abgehört. Sie haben Erfahrungen gemacht und Eindrücke gewonnen, die fortwirken werden.
Dabei haben sie mal mehr, mal weniger geübt; sie hatten nie vor, professionelle Musiker zu werden. Aber sie sind immer gern zum Unterricht gekommen, sicherlich auch, weil sie dort mit großer Selbstverständlichkeit erwartet wurden. Paula Dickmann: „Ich habe nie verstanden, warum so oft diskutiert wird, ob sich Instrumentalunterricht in diesem oder jenem Fall ‚lohnt‘ oder nicht. Natürlich lohnt er sich! Gelegentlich kann ein Wechsel des Instruments oder ein Lehrerwechsel helfen – ich bin sicherlich nicht immer die richtige. Ansonsten muss es aber darum gehen, die Unterrichtsziele und -inhalte kontinuierlich anzupassen.“ Und wie äußern sich A. und D. aus Schülerperspektive zum Stellenwert des langjährigen Klavierunterrichts: „fes­ter Bestandteil, gehört einfach dazu“.

Tragfähiges musika­lisches Fundament

Musikalische Vielfalt bedarf verlässlicher Grundlagen. Um diese zu schaffen, setzt Paula Dickmann bewährte Arbeitshilfen aus der Elementaren Musikpädagogik ein: Met­ren verkörpern, Rhythmen sprechen, Tonfolgen solmisieren. „In der EMP wie im Unterstufen-Klavierunterricht verwende ich Unterrichtswerke, die mit Solmisationssilben arbeiten und tragfähige musikalische Fundamente legen. Die Entstehung der Klangstraße konnte ich in meiner Studienzeit ganz unmittelbar mitverfolgen; entsprechende Klavierschulen sind später hinzugekommen: erst Wir am Klavier, dann Das kleine Land, das ich für Kinder wie Erwachsene heran­ziehe.“2
Mit der Relativen Solmisation verfügt Paula Dickmann über ein Unterrichtsmittel, das von Anfang an für tonales Bewusstsein sorgt und das sie einfach fallenlassen kann, wenn die Musik zu komplex wird. „Bei passenden Gelegenheiten werden die Silben und Handzeichen dann wieder hervorgekramt – und sind im gemeinsamen Singen auch gleich wieder präsent.“

Ich habe nie verstanden, warum so oft diskutiert wird, ob sich Instrumentalunterricht in diesem oder jenem Fall „lohnt“ oder nicht. Natürlich lohnt er sich!

Solches „Lernen mit allen Sinnen“ wird seit reformpädagogischen Zeiten empfohlen und in aktuellen musikpädagogischen Aufsätzen schlüssig begründet, etwa von Wolfgang Rüdiger und Ivo Ignaz Berg.3 Gemäß Wolfgang Rüdiger ist „Körperlichkeit“ ein „Grundphänomen menschlichen Daseins“ und damit auch eine „Grunddimension des Musiklernens“. Der Körper sei „der einzig wahre, weil genuin musikalische Erlebens-, Verstehens- und Lernweg zur Musik“. Entsprechend wandelt er die Devise „teaching music musically“ in „teaching music bodily“ um. Durch Teilhabe und Anpassung wachse das Kind in die jeweilige Musikkultur hinein; aktives Singen und Musizieren führe zur „Einkörperung“ der entsprechenden Ordnungssysteme. Beispielsweise inkorporiere sich „durch die Verwendung expressiver Handzeichen […] der Ausdrucksgehalt von Intervallen ebenso wie von melodischen Spannungsbögen im Ganzen“ – zur Illustration führt Rüdiger „die Weite der Quinte Do–So“ und „die Gewichterfahrung von So–Do“ an.
Ivo Ignaz Berg nimmt diesen Faden auf und denkt über „Gesten des Musizierens“ nach. Die von ihm geschilderten Aktionen („klangauslösende Bewegungen“, „klangbegleitende Bewegungen“, „kommunikative Gesten im Ensemble und beim Spiel vor Publikum“ und „Gesten des Hörens und Verstehens“) spielen zweifellos gerade im Gruppenunterricht eine besondere Rolle.

Stabilität und Wandel

Zwei weitere Aufsätze – von Wolfgang Lessing und Monika Smetana – vermögen das Bild zu komplettieren.4 Lessing schildert eine Didaktik, der es „darum geht, eine bestimmte musikalische Fortschreitung vor dem Hintergrund anderer ebenso möglicher Varianten zu hören und zu spielen“, ein Üben, das „in einem Erkunden und Kennenlernen von Umgebungen und Alternativen, mit anderen Worten: im bewussten Herstellen von Unterschieden“ besteht. Diese Erlangung von Stabilität durch steten Wandel, diese „differenzielle“ Arbeitsweise klingt in den Aussagen der Unterrichtspartner A. und D. und der Lehrerin Paula Dickmann deutlich an.
Auch Monika Smetana befasst sich mit dem Verhältnis zwischen Beständigkeit und Veränderung – allerdings mit besonderem Blick auf den „mitunter sehr konfliktreichen und aushandlungsintensiven Übergang zwischen Kindheit und Erwachsensein“ – und thematisiert unter anderem die Peer Group:
„Gleichaltrige gewährleisten in dieser Lebens­phase besser als Erwachsene die Verwirk­lichung von Gleichheit (i. S. von Akzeptanz von Unterschieden zwischen den Gruppenmitgliedern und allgemeiner Gerechtigkeit) sowie von Souveränität (i. S. der Möglichkeit zur Selbst­darstellung und Verwirk­lichung von Zielen). So kann die Peer Group unter günstigen Bedingungen zur Orientierung und Sicherheit beitragen, emotionale Geborgenheit geben und dabei helfen, das Gefühl der Einsamkeit zu überwinden. Sie bietet Raum und zugleich Schutz für die Erprobung neuer Möglichkeiten im Sozialverhalten und neuer Formen sozialer Aktivitäten.“ Weil Zweiergruppen fast schon Peer Groups sind, ist die Idee der „stabilen Gruppe“ auch entwicklungspsychologisch von großer Bedeutung.

Musizieren im Plural

Mit einer erfahrenen Musikschullehrerin ein von Begeisterung getragenes Gespräch über Partner- und Gruppenunterricht zu führen: Das rückt manch falsche Vorstellung zurecht und eröffnet neue Perspektiven. Wo „musikalische Körper“ agieren, wo sich Peer Groups entwickeln, dort findet ein vielfältig bereichertes Musizieren statt. Als Klavierlehrer wünsche ich mir musikalische Kommunikation auf allen Achsen und in allen Richtungen: von mir zu den Schülerinnen und Schülern, von diesen zu mir und unmittelbar zwischen den Unterrichtspartnern. Darum geht es in der Musik – und darum sollte es auch im Ins­trumentalunterricht gehen! Kein anderer Ort ist dafür so geeignet wie die Gruppe.

1 Thomas Grosse: „Kompetenzmangel Gruppenunterricht? Neues vom Gruppenunterricht: Der Trend geht zur Einergruppe!“, in: üben & musizieren 5/2008, S. 6-11.
2 Irmhild Ritter/Christa Schäfer: Die Klangstraße. Sing mit, tanz mit, spiel mit mir. Elementares Musizieren mit Kindern ab vier Jahren, 2 Schülerhefte und 2 Lehrerhandbücher, Mainz 1998/2001; Malte Heygster/Wolfgang Schmidt-Köngernheim: Wir am Klavier. Musik zum Singen und Spielen für den Unterricht in der Gruppe oder einzeln, Schülerheft und Methodischer Kommentar, Mainz 2000; Martin Widmaier: Das kleine Land. ­Alles für den Anfang am Klavier, 2 Hefte, Frankfurt am Main 2005/2006.
3 Wolfgang Rüdiger: „Körperlichkeit als Grunddimen­sion des Musiklernens. Begründungen und Beispiele“, in: Wilfried Gruhn/Peter Röbke (Hg.): Musiklernen. Bedingungen – Handlungsfelder – Positionen, Innsbruck 2018, S. 130-154, hier: S. 131, 139 und 144; Ivo Ignaz Berg: „Gestisches Lernen“, ebd., S. 155-175, hier: S. 160-164.
4 Wolfgang Lessing: „Üben als Handeln“, ebd., S. 70-93, hier: S. 84; Monika Smetana: „Einflüsse der Adoleszenz auf musikalische Lernbiografien“, ebd., S. 246-268, hier: S. 260 und 264.

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