Weber, Julia

Stimmigkeit und Dissonanz

Zum Zusammenhang zwischen Überzeugungen von Komponist*innen und ihrem kompositionspädagogischen Handeln

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Waxmann, Münster 2021
erschienen in: üben & musizieren.research 2022

 

Einmischung erlaubt?

Eine Grounded-Theory-Studie zum Zusammenhang zwischen Überzeugungen von Komponist*innen und ihren Handlungen in kompositionspädagogischen Projekten

Rezension zu:
Weber, Julia (2021). Stimmigkeit und Dissonanz. Zum Zusammenhang zwischen Überzeugungen von Komponist*innen und ihrem kompositionspädagogischen Handeln. Perspektiven Musikpädagogischer Forschung, Band 13. Münster: Waxmann. 206 Seiten. 29,90 €, ISBN 978-3-8309-4431-7

Rezensentin: Renate Reitinger
Rezension veröffentlicht am: 14.12.2022

1. Stimmigkeit und Dissonanz

Unter diesem Titel legt Julia Weber ihre im Jahr 2020 an der Universität zu Köln angenommene Dissertation vor, eine qualitative Interviewstudie mit zehn Komponist*innen, die an der kompositionspädagogischen Weiterbildung KOMPÄD teilgenommen und im Rahmen der Weiterbildung auch Praxisprojekte konzipiert und durchgeführt haben. Der Titel macht neugierig, er weckt zahlreiche Assoziationen – was wird sich am Ende als stimmig oder konsensfähig herausstellen, wo werden eher Widersprüche und Dissonanzen (im wörtlichen und übertragenen Sinne) erkennbar, wo sind die Teilnehmenden im Reinen mit sich und ihrem Handeln, wo nicht? Fragen, die in allen instrumental-, gesangs-, elementar- und eben auch kompositionspädagogischen Settings auftauchen und die Berufszufriedenheit von Lehrpersonen stark beeinflussen können.

Beim Sich-Vertiefen in das – trotz aller formalen und methodischen Erfordernisse – gut lesbare Buch wird dann schnell deutlich, dass hier die beiden zentralen Begrifflichkeiten, die sich als analytische Kategorien in der Auswertung der Interviews ergeben haben, vorangestellt werden. Sie beschreiben die möglichen Zusammenhänge zwischen Überzeugungen und Handlungen und bilden somit den Kern der Theorie: Die Komponist*innen sind bestrebt, kompositionspädagogische Projekte so anzulegen, dass sie sich stimmig zu ihren Überzeugungen verhalten (S. 165). Stimmigkeitserleben führt demnach zu einer Affirmation von Überzeugungen und positiven Verstärkung von Handlungen. Auf Dissonanzerleben reagieren die Teilnehmenden mit Handlungs- und Reflexionsdruck, jedoch auf unterschiedliche Arten. Unterrichtsform sowie Vorerfahrungen der Anleitenden, aber auch Diskrepanzen zwischen künstlerischen und pädagogischen Überzeugungen werden ebenfalls als Einflussfaktoren auf das Verhältnis von Überzeugungen und Handlungen identifiziert. Überzeugungen bleiben auch im Fall von Dissonanzen relativ stabil.

2. Überzeugungen als Ausgangspunkt, Einmischung als Tabu

Die Publikation folgt der klassischen Gliederung in einen theoretischen Teil, die Offenlegung des Forschungsdesigns, die Vorstellung der Ergebnisse und die abschließende Diskussion derselben. Wer also – wie die Rezensentin – ungeduldig die Ergebnisse erwartet, kann beim Fazit am Ende beginnen und sich nach und nach alle Details zu Begriffskonzepten, zur Methodik und den Auswertungen der Daten erschließen.

Den theoretischen Rahmen bildet zunächst der Begriff der Überzeugungen, der auch in Abgrenzung zu ähnlichen Konstrukten wie subjektiven Theorien, Selbstkonzepten, Individualkonzepten und Einstellungen (z. B. Niessen, 2006; Hammel, 2011) erläutert wird und so einen belastbaren Ausgangspunkt für die Untersuchung bildet. Es erfolgt eine nachvollziehbare handlungstheoretische Positionierung (u. a. unter Bezugnahme auf Joas, 2012) sowie die Darstellung der Anforderungen an die Lehrpersonen in kompositionspädagogischen Settings, unter Rückgriff auf die vor allem englischsprachige Studienlage (v. a. Reese, 2003; Fautley, 2004; Devaney, 2018).

Im sogenannten Methodenteil wird dann der hier angewandte Ansatz der Grounded-Theory-Methodik (Strauss & Corbin, 1996) inklusive aller vorgenommenen Modifizierungen ersichtlich. Auch der Zusammenhang zwischen der Evaluation der kompositionspädagogischen Weiterbildung, in deren Rahmen die Interviews geführt wurden, wird offengelegt. Die untersuchten Datensätze enthalten pro Fall drei leitfadengestützte Interviews sowie die Projektskizzen der Interviewten und die Postskripte der Untersucherin nach dem Besuch der Projekte. Damit liegen der Studie einerseits recht umfassende, andererseits strukturell unterschiedliche Daten zugrunde, die sich gut gegenseitig ergänzen und anreichern. Am Ende des Buches finden sich als Anhang die Transkriptions- und Anonymisierungsregeln, die Interviewleitfäden in den verschiedenen Fassungen sowie die Vorgaben zur Strukturierung der untersuchten Projektskizzen der Interviewteilnehmer*innen. Die vollständigen Transkripte der Interviews sowie die Kodierdaten sind nicht zugänglich, hätten die Publikation an dieser Stelle auch überfrachtet. Die vollständige und frei verfügbare Archivierung dieser Daten wäre dennoch überlegenswert, angesichts aktueller Anforderungen an Wissenschaftskommunikation und Forschungsdatenmanagement wie Nachnutzbarkeit, Reproduzierbarkeit und Überprüfbarkeit – eine Aufgabe, der sich Hochschulen, Universitäten und Verlage künftig stellen müssen. Die Nachvollziehbarkeit der Dateninterpretation kann dennoch als gesichert gelten: Mit Hilfe etlicher Beispiele wird die Vorgehensweise beim Kodieren und Kontrastieren sowie der Einbezug weiterer Notizen ersichtlich.

Als Ergebnis der Interviewauswertung können sechs Kategorien von Überzeugungen identifiziert werden: Offenheit und Ideenorientierung als geteilte Überzeugungen, wobei insbesondere Offenheit gleichermaßen als Voraussetzung und Ziel von kompositionspädagogischen Prozessen angesehen wird, während die Ideenorientierung quasi als „kompositionspädagogisches Gesetz“ (S. 72) und Ausdruck der Schüler*innenorientierung fungiert; weniger breit geteilte Überzeugungen verweisen auf die Kompositionspädagogik als Allheilmittel zum Umgang mit gesellschaftlichen Umwälzungen wie der Digitalisierung, zur Stärkung der Persönlichkeit der Schüler*innen und zur Aufhebung des Geniemythos. Eine weitere Kategorie bilden die Überzeugungen zu den richtigen Lernwegen, hier werden vor allem zwei Richtungen ersichtlich: vom Vertrauten hin zum Neuen und von der eng gestellten Aufgabe hin zur weit gefassten mit viel Spielraum für die Schüler*innen. Schließlich werden Überzeugungen zu Begabung und Talent, ästhetische Überzeugungen und Überzeugungen zum Verhältnis von Kunst und Pädagogik identifiziert.

Anhand von 23 Beispielen aus den Transkripten und unter Rückgriff auf die Projektskizzen werden schließlich die Zusammenhänge zwischen Überzeugungen und pädagogischen Handlungen ausführlich entwickelt. Hier werden die verschiedenen Strategien im Umgang mit Dissonanzerleben deutlich: Weber nennt sie a) Ausbalancieren (etwa zwischen eigener ästhetischer Position und dem Ergebnis der Schüler*innen), b) Wegerklären mit Hilfe von „Sündenböcken“ (S. 155), wie Einmischungen von außen, c) Akzeptieren der Dissonanzen und d) (vorübergehendes) Resignieren.

Als zentrales Spannungsfeld identifiziert Weber das Verhältnis zwischen Kunst und Pädagogik auch im Selbst- und Rollenverständnis der Komponist*innen. Hier entsteht typischerweise Dissonanzerleben, es gibt aber auch gegenseitige Verstärkungseffekte, die zu einer Tabuisierung der Einmischung in die Kompositionsprozesse oder die Stücke der Schüler*innen führen. Das Tabu der Einmischung wird vor dem Hintergrund des Kreativitätsdispositiv-Diskurses abschließend ausführlich diskutiert und hinsichtlich möglicher Risiken ausdifferenziert, indem die Gefahr intransparenter und unbewusster Steuerungsprozesse, die an die Stelle vermeintlicher Zurückhaltung seitens der Lehrperson treten, thematisiert wird. Weber formuliert davon ausgehend weiteren Forschungsbedarf bezüglich der Lehrer*innenbildung und der Musikpädagogik allgemein, nimmt jedoch dabei auf neuere Diskurse zur community music oder zu artistic citizenship, deren Anschlussfähigkeit in diesem Zusammenhang geprüft werden könnte, nicht explizit Bezug. Hier könnten künftige Forschungsprojekte anknüpfen und das Selbst- und Rollenverständnis sowie weitere handlungsleitende Faktoren in anderen als Unterrichtskontexten beleuchten.

3. Relevanz der Untersuchung

Weber fokussiert in ihrer Studie die Innensicht der Komponist*innen bzw. Kompositionspädagog*innen, erhält Zugriff auf die Spannungen und Konflikte der kompositionspädagogisch Tätigen, auch dort, wo diese von außen (in den Projekten) nicht ersichtlich waren. Die Perspektive der Lehrpersonen zu thematisieren, erkennt sie zurecht als Ergänzungsmöglichkeit zu Untersuchungsansätzen, in denen die Sichtweisen der beteiligten Kinder, Schüler*innen und Teilnehmenden im Mittelpunkt stehen (etwa im Forschungscluster ModusM – Musikunterricht im Modus des Musik-Erfindens, Kranefeld & Voit, 2020). Ihr gelingt es im Verlauf der Untersuchung überzeugend, sowohl das Vorhandensein als auch die Bedeutung der Zusammenhänge zwischen Überzeugungen, also dem, was die Interviewten für gültig halten, ihrem Stimmigkeits- und Dissonanzempfinden und ihren konkreten Handlungen im kompositionspädagogischen Setting zu verdeutlichen. Die Leser*innen erhalten nicht nur kompakte Informationen über anschlussfähige theoretische Konzepte (etwa zur Entwicklung kompositorischen Talents, Bullerjahn, 2000) und weitere musikbezogene Diskurse (Varkoy & Gies, 2017; Schatt, 2011), sondern auch ganz nebenbei und eher indirekt Einblicke in den Kompositionsunterricht, seine Prozesse und Inhalte, die zumeist für nicht auf dieses Feld spezialisierte Musikpädagog*innen und Nicht-Komponierende sonst hinter verschlossenen Türen verborgen bleiben. Trotz aller angebrachten Relativierung der Gültigkeit – auch das eigene Involviertsein als Forscherin wird kritisch reflektiert – gelingt es der Autorin, das Konzept der Überzeugungen als Rahmen für kompositionspädagogisches Handeln darzustellen und eine tiefere Durchdringung des Unterrichtsgeschehens durch Reflexion derselben möglich erscheinen zu lassen. Hier wäre eine Aufbereitung der Theorie auch auf visueller Ebene möglich und hilfreich gewesen, um ihre Greifbarkeit und Nutzbarkeit für den theoretischen Diskurs und die weitere Ableitung von Konsequenzen für andere musizierpädagogische Kontexte noch zu erhöhen.

In der Annahme, dass der Zusammenhang zwischen Überzeugungen und Handlungen für jeden Unterricht gilt, werden abschließend nachvollziehbare Konsequenzen für die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrpersonen skizziert, etwa die (angeleitete und methodisch vielfältig initiierte) Reflexion der eigenen Überzeugungen in gemischten Gruppen, etwa im Diskurs zwischen den Fächern Musiktheorie, Musikpädagogik und Komposition(spädagogik). Die hier vorgestellte fundierte Theorie kann dabei der Ausgangspunkt nicht nur für die Sensibilisierung und Reflexion der Lehrpersonen, sondern auch für die Operationalisierung konkreter Methoden und Handlungsweisen sein.

Im Hinblick auf die Bedeutung des Komponierens im Musikunterricht könnte die eine oder den anderen Leser*in das Gefühl beschleichen, dass in dem spezifischen Dissonanzerleben ein weiterer Grund dafür liegen könnte, dass viele Lehrkräfte immer noch einen Bogen um das Lernfeld Komponieren machen, insbesondere, wenn sie im Studium nicht die Gelegenheit hatten, eigene Erfahrungen zu sammeln und vorhandene Überzeugungen zu reflektieren. Diesbezüglich ist Einmischung unbedingt erlaubt.

Literaturverzeichnis
Bullerjahn, C. (2000). Ist Komponieren männlich? Ein Forschungsüberblick und eigene explorative Studien. In S. Wesely (Hg.). Gender Studies in den Sozial- und Kulturwissenschaften: Einführung und neuere Erkenntnisse aus Forschung und Praxis (S. 360–379). Bielefeld: Kleine.
Devaney, K. (2018). How Composing Assessment in English Secondary Examinations Affect Teaching and Learning Practises. City University: Birmingham. https://www.researchgate.net/publication/331382632 [Zugriff am 13.11.2022].
Fautley, M. (2004). Teacher intervention strategies in the composing processes of lower secondary school students. International Journal of Music Education, 22(3), 201–218.
Hammel, L. (2011). Selbstkonzepte fachfremd unterrichtender Musiklehrerinnen und Musiklehrer an Grundschulen: Eine Grounded-Theory-Studie. Münster: Lit.
Joas, H. (2012). Die Kreativität des Handelns (4. Aufl). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Kranefeld, U. & Voit, J. (2020) (Hg.). Musikunterricht im Modus des Musik-Erfindens. Fallanalytische Perspektiven. Münster: Waxmann.
Niessen, A. (2006). Individualkonzepte von Musiklehrern. Münster: Lit.
Reese, S. (2003). Responding to Student Composition. In M. Hickey (Hg). Why and how to teach music composition: A new horizon for music education (S. 211–232). Reston/VA: MENC The National Association for Music Education.
Schatt, P. (2011). Der „Faust“ im Nacken: Musikalische Bildung durch Komponieren? In P. Vandré & B. Lang (Hg.). Komponieren mit Schülern: Konzepte – Förderung – Ausbildung (S. 41–50). Regensburg: ConBrio.
Strauss, A. L. & Corbin, J. M. (1996). Grounded theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz Psychologie Verlags Union.
Varkøy, Ø. & Gies, S. (2017). Warum Musik? Zur Begründung des Musikunterrichts von Platon bis heute. Esslingen: Helbling.

Renate Reitinger
Hochschule für Musik Nürnberg
Veilhofstr. 34
90489 Nürnberg
E-Mail: renate.reitinger@hfm-nuernberg.de
Forschungsschwerpunkte: Elementare Musikpädagogik, Elementares Komponieren, Musikalische Entwicklungsforschung, Heterogenität, Hochschuldidaktik