Großmann, Linde

Stolzer Charakter in Moll

Mazurka aus dem „Kinderalbum“ op. 39 von Peter I. Tschaikowsky

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 4/2022 , Seite 28

Peter I. Tschaikowskys „Kinder­album“ gehört zusammen mit Robert Schu­manns „Jugendalbum“, auf das es sich ausdrücklich bezieht, zu den ­zentralen Werken des pädagogischen Repertoires für Klavier. Fast mehr noch als Schumann ist es Tschai­kowsky gelungen, den Erlebniswelten und pianistischen Möglichkeiten von Kindern zu entsprechen.

Das persönliche Umfeld hat Tschaikowsky dabei zweifellos angeregt und beeinflusst: Die Stücke entstanden 1878 in Kamenka, einem Dorf in der Nähe von Kiew, wo sich das Gut von Lev Davydov, einem guten Freund Tschaikowskys und Ehemann seiner Schwester, befand. In dieser Familie gab es etliche Kinder, zu denen der Komponist eine enge Verbindung hatte. Der Tagesablauf eines Kindes, Kinderspiele, Lieder, Tänze, Charakterstücke mit Bezug zu Märchen bilden den programmatischen Inhalt der Stücke, die alle einen entsprechenden Namen tragen. Große Griffe werden vermieden. Die Stücke sind theoretisch ohne Pedal realisierbar, auch wenn sich natürlich an vielen Stellen Pedal sehr anbietet (notiert ist es nirgends).
Tschaikowsky dachte (leider zu spät) sogar an Äußerlichkeiten: Er bedauert in einem Brief an seinen Verleger, dass das Heft im Hoch- und nicht im praktischeren Querformat gedruckt wurde. Auf diese Weise sei sein kleiner, zu dem Zeitpunkt sechseinhalbjähriger Neffe Wolodja („Bobik“) Davydov, der Widmungsträger, gezwungen, im Stehen zu spielen, um die Noten lesen zu können.1
Die besondere Eignung der Stücke für Kinder liegt auch darin begründet, dass sie formal alle sehr übersichtlich gehalten sind. Der Klaviersatz ist zwar oft orchestral (z. B. im Morgengebet oder in der Coda von In der Kirche), kammermusikalisch (z. B. Altfranzösisches Lied) oder auch quasi chorisch (In der Kirche) angelegt, gleichzeitig werden aber viele typisch pianistische Spielformen benutzt – mit Ausnahme von Tonleiterpassagen, die völlig fehlen: Akkordspiel, kantable Melodien mit harmonischer Begleitung, Zweistimmigkeit in einer Hand, Verzierungen (im Lied der Lerche), Repetitionen und verschiedene Artikulationsformen.
Die Sammlung enthält einige Binnengruppen wie z. B. mehrere Lieder (deutsch, altfranzösisch, italienisch, neapolitanisch, russisch), Stücke über die Geschichte einer Puppe, den Rahmen aus Morgen- und Abendgebet sowie einige Tänze. Zu letzteren gehört die Mazurka, die für mich immer ein gutes Beispiel für „toll in Moll“ ist (von den 24 Stücken der Sammlung stehen nur sieben in Moll). Der stolze, energische Charakter des Stücks kommt bei Kindern gut an. Daneben enthält es einige Lernfelder, die das Stück auch vom pädagogischen Standpunkt aus interessant machen. Das betrifft vor allem die Koordination der Hände und die Artikulation.

Form

Wie auch bei den anderen Stücken des Kinderalbums ist die Form übersichtlich und durch die vielen Wiederholungen schnell zu lernen. Eine 16-taktige Periode moduliert nach F-Dur und erhält einen zweitaktigen kleinen Anhang. Es folgt ein 16-taktiger Mittelteil in C-Dur, bei dem nach einem d-Moll-Akkord am Anfang jeder Vier-Takt-Gruppe nur D7 und C-Dur abwechseln. Wir haben also viermal die Folge Sp – D7 – T. Die letzten beiden Takte führen dann über den interessantesten Akkord des Stücks (deshalb auch durch das einzige sf hervorgehoben, was hier durchaus auch eine leichte Dehnung bedeuten kann) zur Dominante von d-Moll und damit zur Reprise des Anfangsteils. Dieser alterierte Akkord der Doppeldominante erklang schon in Takt 5, allerdings nicht in so kompakter Form und dadurch wohl nicht so auffällig. Die Reprise moduliert natürlich nicht mehr, sondern führt in den letzten vier Takten endgültig nach d-Moll, worauf wieder der zweitaktige Anhang folgt.
Um die Form auch optisch zu veranschaulichen, könnte man nach dem Vorbild von Johann Nepomuk Davids Darstellungen der Inventionen von Bach die analogen Abschnitte untereinander projizieren. Dann „verirrt“ man sich nicht so leicht zwischen den Wiederholungen und versteht die Funktion der verschiedenen Kadenzwendungen besser.

1 Tschaikowsky, Peter I.: Kinderalbum op. 39, hg. von Thomas Kohlhaase und Alexandr Saz, Wiener Urtext Edition, UT 50134, Mainz/Wien 2000, S. VI.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2022.