© Birgit Hupfeld

Finke, David

Stream A Little Dream Of Me

Streamingkonzerte im Musikschulkontext

Rubrik: Digital
erschienen in: üben & musizieren 1/2023 , Seite 38

Wie nie zuvor hat die Corona-Pandemie die Aufführungspraxis von MusikerInnen zumindest für eine Zeit lang nicht nur aus den Clubs und Kneipen, sondern auch aus den Musikschulen ins Digitale gezwungen. Während zunächst häufig weder Bild- noch Tonqualität ausreichend waren, hat sich innerhalb kürzester Zeit gezeigt, dass es sich bei Streaming­konzerten durchaus um ein kreativ bereicherndes Format handeln kann – wenn man ein paar Dinge beachtet.

Es könnt’ alles so einfach sein, isses aber nich*

*Die Fantastischen Vier mit Herbert Grönemeyer, 2007
Zum Musizieren gehören Bühne und Pub­likum wie die Saiten zur Gitarre: Wer nur für sich allein spielt, verkennt die Bereicherung, die das Musikmachen in der Gemeinschaft auszeichnet. Wenn nun aber öffentliche Bühnen wegen einer Pandemie verwaisen und das Publikum aus Angst vor Ansteckung und rechtlichen Vorgaben zuhause bleibt, scheint es zunächst wenig Mög­lichkeiten zu geben, ein gemeinsames Konzerterlebnis vor Ort herzustellen. Jedoch: Durch Social Media, Videochats und unmittelbares Feedback kann eine ganz neue Form des Performativen im Digitalen entstehen: SolokünstlerInnen und Gruppen können mit Technik und Team Streamingformate entwickeln, die wieder ein direktes Miteinander-Atmen zulassen. Und Musikschulen können davon profitieren. Denn wer streamt, hat eine enorme Kontrolle über die Außenwirkung.

Vorsprung durch Technik* – Voraussetzungen für Stream

*Werbeslogan von Audi
Für die optimale Performance beim Stream sollte als allererstes die Technik stimmen: Egal, ob es sich um eine Sängerin oder eine ganze Band handelt: Es sollte, wie vor jedem anderen Konzert auch, entsprechend mikrofoniert und eingepegelt werden, was ein Mischpult mit mehreren Monitorwegen erforderlich macht. Idealerweise läuft das Monitoring beim Stream komplett über Kopfhörer, wie man es von Radiokonzerten kennt – vor allem dann, wenn kein „analoges Publikum“ zuhört. Dies ermöglicht eine bessere Klangtrennung und wir können uns den Aufbau einer Gesangsanlage sparen.
Außerdem benötigen wir einen Computer, um das Audiosignal in die Welt zu geben. In der Regel wird das ein Laptop sein. Man sollte allerdings sicherstellen, dass genug Grafikkartenpower im Gerät verbaut ist. Dazu empfiehlt sich ein Audiointerface, das den Stereomix des Mischpults als Eingangssignal erhält, um die Videostreamingsoftware mit Ton zu füttern. Hier können kleinere Modelle von Herstellern wie Behringer, PreSonus oder Focusrite ins Auge gefasst werden, die übrigens alle recht günstig sind. Die Qualität der Vorverstärker ist heutzutage kein Problem mehr: Selbst günstigere Interfaces erreichen mittlerweile eine mehr als ausreichende Brillanz.
Möchte man kleinere Streams fahren, z. B. mit einem Handy oder Tablet, so sollte man sicherstellen, dass das Interface einen Class-Compliant Modus hat, also ohne zusätzliche Treiber als Eingangsgerät genutzt werden kann. Das ist inzwischen bei den meisten Geräten der Fall und kann sogar Mischpult und Monitoring ersetzen. Und natürlich sind Tablets inzwischen an vielen Musikschulen bereits hervorragend in den Alltag integriert. Ich persönlich ziehe dennoch den Laptop und das Mischpult vor.

Video Killed the Radiostar* – Videoqualität bleibt essenziell

*The Buggles, 1979
Bei der Videotechnik ist von „Mit-Kanonen-auf-Spatzen-schießen“ bis zu „Dogma-Style-Handkamera“ alles möglich, man sollte aber den technischen Aufwand nicht unterschätzen. Denn die Videoqualität spielt eine essenzielle Rolle: Schaurig aussehende Streams werden auch bei hervorragender Musik einfach abgeschaltet.
In jedem Fall bietet es sich an, die kostenlose Streamingsoftware OBS (Open Broadcaster Software) zu nutzen: Damit können selbst mit nur einer einzigen Kamera verschiedene Szenen mit eingeblendeten Titeln oder verschiedenen Zoomstufen voreingestellt und abgerufen werden. Mit mehr als einer angeschlossenen Kamera sind sogar komplexe Bildkompositionen möglich, die einfach mittels der Computertastatur zu steuern sind. OBS sorgt außerdem mittels des Streaming-Schlüssels für das Einspeisen der Performance ins Netz und zur wiedergebenden Plattform, also etwa YouTube, Twitch, Facebook, Instagram… Jede dieser Plattformen erstellt einen indivi­duellen Streaming-Schlüssel, mit dem man „live gehen“ kann. Falls man hingegen lediglich ein Tablet oder Smartphone zum Streamen nutzen möchte, wird nicht mit OBS gearbeitet. OBS ist hier nicht verfügbar und die verschiedenen Social-Media-Plattformen für mobile Endgeräte bieten in ihren Apps bereits entsprechende Möglichkeiten, einen Stream zu starten.
Schließlich stellt sich noch die Frage, welche Plattform die richtige Wahl ist. Man sollte sich dazu im Vorfeld einige Gedanken machen. Es stellt sich beispielsweise die rechtliche Frage, ob eine städtische Musikschule z. B. auf Twitch streamen darf. Darüber hinaus möchte man eine angemessene Reichweite erzielen und kann sich fragen, ob die Musikschule genug Follower auf YouTube hat. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Dienste wie Restream.io das Streamen auf mehreren Portalen gleichzeitig ermöglichen. Manchmal kann aber sogar das eigene Profil der lokalen Musikschulband der lohnendste Multiplikator sein, weil man die Fans der Bandmitglieder gleich mit erreicht.

1 Step Forward, 3 Steps Back* – digitale Verzögerungen

*Olivia Rodrigo, 2021
Wenn wir über digitale Technik reden, müssen wir leider auch immer über Latenz reden. Latenz ist die Verzögerung, die entsteht, wenn digitale Geräte ihre Berechnungen durchführen. So ist z. B. das Weiterleiten von Videodaten an den Computer sehr viel rechenintensiver als das Weiterleiten von Audiodaten, woraus sich automatisch folgendes Problem ergibt: Nutzt man nicht das interne Kamera-Mikrofon, sondern ein professionelles Interface wie oben beschrieben, ist der Ton eher im Computer als das Bild. Klatscht man also in die Hände, ist im Stream das Klatschen zu hören, bevor die Hände sich berühren. Unschön, aber ein systemimmanentes Problem der Digitalwelt. Software wie OBS bietet allerdings die Möglichkeit, die Audiodaten in Millisekunden-Schritten „nach hinten“ zu schieben, bis Bild und Ton wieder synchron sind (zu finden in den erweiterten Audioeigenschaften des verwendeten Interfaces im OBS Audio-Mixer).
Damit wäre das Problem eigentlich gelöst, aber ein Problem hatte ich neulich dennoch bei einem Stream, den ich in einem professionellen Tonstudio durchgeführt habe: Wir hatten für die verschiedenen Blickwinkel verschiedene Kameras verwendet, was im Prinzip eine gute Idee war – so kennt man es schließlich von großen Fernsehshows. Allerdings hatten alle Kameras, bis auf zwei, eine unterschiedliche Verzögerung bei der Bildübergabe an den Rechner, da sie nicht baugleich waren. Das macht die Einstellungen etwas komplizierter. Es ist zwar möglich, für jedes Bild in OBS als Effektfilter auch eine Videoverzögerung einzustellen, dafür ist es dann jedoch notwendig herauszufinden, welche Kamera die „langsamste“ ist und die anderen Kameras daraufhin zu verzögern und als letztes dann, wie oben beschrieben, den Ton auf das Kamera-Bild zu synchronisieren. Das ist ein sehr aufwändiger Vorgang, der sich nur lohnt, wenn dasselbe Setup regelmäßig verwendet wird. Wir haben uns dafür entschieden, die zwei baugleichen Kameras als Hauptkameras zu verwenden und die weiteren Kameras lediglich so gut wie möglich anzupassen, da wir wenig Zeit für den Aufbau und die Show hatten.
Daher die dringende Empfehlung: Am Tag vor dem Stream (oder noch früher) sollte man nicht nur checken, ob Bild und Ton im Rechner ankommen, sondern auch, wie die Verzögerungen aussehen und diese gegebenenfalls anpassen. Übrigens bietet OBS auch dafür eine praktische Funktion, da man das Video aufzeichnen kann. Jede Justierung kann dann also sogar von einer einzelnen Person getestet werden, wenn diese sich selbst aufnimmt und danach das Video ansieht. Mit etwas Erfahrung hat man recht schnell ein Gefühl dafür, welche Verzögerung wo angepasst werden muss.
Und schließlich: Musik- und Performancestreaming ist eine Kunstform, die neben den InstrumentalistInnen auch SchülerInnen einzubinden vermag, die sich mit Mixing und Producing auseinandersetzen. Sie können den Sound für den Livestream mitgestalten. Selbst SchülerInnen, die (noch) nicht auf die Bühne möchten, haben vielleicht ein Talent für Szenenübergänge oder Kameraführung, sodass jeder in die Planung und den Ablauf eines Konzertprojekts integriert werden kann, was pädagogisch ein absoluter Gewinn ist.

Achtung Baby* – oder auch: Drama, Baby!

* U2, 1991
A propros Ablauf: Die Dramaturgie muss stimmen. Mehr noch als beim physischen Livekonzert fällt beim Stream, der mit anderen Angeboten im Internet konkurrieren muss, eine schwache Gestaltung der Aufführung in besonderem Maße auf. Beim Stream bilden die Bühnenshow und die Regie eine untrennbare Einheit. Es lohnt sich, genaue Überlegungen zum Ablauf an­zustellen: Moderation, Ansagen, Licht und Effekte – alles sollte getimed und geprobt werden.
Vor dem Stream blende ich beispielsweise immer gerne ein loopendes Video mit einem Counter ein, der anzeigt, wann der Stream losgeht. Dazu gibt es im Internet verschiedene Webseiten, mit denen sich Timer erstellen lassen und in OBS können diese Online-Timer dann als Website in das Szenenbild integriert werden. So weiß das virtuelle Publikum zumindest, dass es auf den richtigen Link geklickt hat.
Und während sich die Leute im Real Life ein Getränk holen, wenn die Performance sie nicht abholt, schließen sie im Netz eventuell das Browser-Fenster und schauen stattdessen lieber Katzenvideos. Neben den Bemühungen um eine möglichst ansprechende musikalische Performance kann man als zusätzliche Hilfe gegen ein Abschalten das Publikum aktiv einbinden. So kann man z. B. die auf den Plattformen verfügbaren Livechats den auftretenden KünstlerInnen zur Verfügung stellen, damit diese auf Fragen oder Wünsche des Publikums eingehen können. Aus Einwürfen des Pub­likums im Laufe des Konzerts einen Song schreiben? Ambitioniert, aber möglich. Da­für braucht es nur ein Tablet oder Smart­phone in der Nähe der MusikerInnen, auf denen der Chat mitläuft.
Oder man betraut ein kleines Social Media-Team während des Streams mit der Aufgabe, im Chatraum mit dem anwesenden Publikum zu schreiben. Dabei geht es nicht darum, die Aufmerksamkeit des Pub­likums von der Performance zu ziehen, sondern ein gemeinsames Erleben zu schaffen: Emojis, ein ausgeschriebenes „Wow!“ oder „Lauter!!!“ machen Lust auf die Musik. Nicht vergessen: Auf den Bildschirmen des Publikums bilden die Performance und der Chat eine untrennbare Einheit – Fluch und Segen des Internets. Und auch das Streaming-Publikum wünscht sich im Chat Zugaben. Darauf sollte man gefasst sein.
Wenn es möglich ist, ein eigenes kleines Bühnenbild zu entwerfen und jemanden mit der Steuerung des Lichts zu beauftragen, sollte das unbedingt in die Planung des Streams vor dem Hintergrund der technischen Übertragungsmöglichkeiten und unter Berücksichtigung der zur Verfügung stehenden Kameras mit einbezogen werden. Schon kleine Gimmicks wie z. B. eine Lagerfeuerlampe für das Wohnzimmer können genau die richtige Atmosphäre vermitteln. Wenn dann noch jemand das Licht in den intimen Momenten reduziert und bei den großen Refrains strahlen lässt, springt der virtuelle Funke auch über.
Die Kameras können fest installiert sein. Dennoch empfehle ich persönlich zumindest eine bewegliche Handkamera zu verwenden, mit der man besondere Momente gezielt einfangen kann. Und hier kommt wieder der Chat ins Spiel: Die Regie am Rechner kann auf Grundlage dessen, was im Chat zu lesen ist, auch auf Wünsche des Publikums eingehen. Nochmal das Gesicht am Mikro in groß? Gerne doch!

Pictures Of You* – Copyright und Recht am Bild

* The Cure, 1990
Streamingkonzerte sind insofern eine Besonderheit, als dass sie immer eine Aufführung und Aufzeichnung gleichzeitig darstellen, denn die übertragenen Videos werden, zumindest kurzzeitig, automatisch in den Systemen der NutzerInnen gespeichert. Es ist daher zwingend notwendig, vor dem Stream die Einverständnisse aller Beteiligten einzuholen, die sich in Bild und Ton äußern, gegebenenfalls von den Erziehungsberechtigten. Außerdem sollte in jedem Fall das Konzert bei der GEMA gemeldet und entsprechend vergütet werden. Lesen Sie dazu auch den Beitrag von Frank Bauchrowitz in dieser Ausgabe.

Bin ich schon drin?* – ein Ausblick in die Zukunft

* Boris Becker in einem AOL-Werbespot, 1999
Während noch vor fünf Jahren Internetkonzerte eine absolute Ausnahme waren, erreichen einige von ihnen inzwischen die Qualität einer Fernsehaufzeichnung eines Livekonzerts. So schnelllebig einzelne Plattformen und Kommunikationsarten im Internet auch sein mögen: Die Vernetzung von Menschen, möglichst ohne Zeitverzögerung und mit emotionaler Echtheit, spielt eine immer größere Rolle. Und inzwischen nutzen MusikerInnen, z. B. an der Musikschule Dortmund, an der ich als Fachkraft für Digitale Musik projektbasiert arbeite, Plattformen wie Soundjack, wo sie live miteinander proben, jammen und konzertieren können, ohne sich am selben Ort zu befinden. Man stelle sich die Möglichkeiten durch flächendeckenden Glasfaserausbau und neue, latenzreduzierende Techniken vor: SchülerInnen können mit Lehrkräften aus anderen Ländern zusammen musizieren und vielleicht sogar Streamingkonzerte gestalten. Niemand muss dafür in ein Flugzeug steigen und trotzdem erlebt man zusammen diesen einen Moment, der Musik als atmendes Nervengeflecht der Menschen ausmacht.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 1/2023.