Böll, Svetlana / Linde Großmann
Tonbildung am Klavier
Theorie und Praxis in russischer Klavierpädagogik
Svetlana Böll und Linde Großmann geben in diesem Buch einen differenzierten Einblick in die Ästhetik des Klavierspiels im Verständnis russischer Pianisten und Klavierpädagogen. In einem kurzen Kapitel werden zunächst allgemeine Kriterien erörtert, wie man eine gute und nuancierbare Tonqualität am Klavier erreichen kann. In den folgenden Kapiteln geht es um den spezifisch russischen Blick auf die Thematik. Anhand von Zitaten bedeutender Pianisten und Pädagogen wie z. B. Anton Rubinstein, Felix Blumenfeld und Heinrich Neuhaus sowie Äußerungen von deren SchülerInnen zeigen die Autorinnen auf, welche Bedeutung der Begriff „Gesanglichkeit“ in dieser Tradition hat.
Dabei werden Besonderheiten der einzelnen Persönlichkeiten ebenso deutlich wie die große gemeinsame Linie. Anstatt von „Anschlag“ ist immer wieder die Rede davon, dass die Taste „befühlt“, „betastet“ werden soll. Technische und künstlerische Arbeit werden nie voneinander getrennt und es wird großer Wert darauf gelegt, schon im Anfangsunterricht das Gehör für die Tonqualität zu sensibilisieren und die Spieltechnik in Verbindung mit der Klangvorstellung zu entwickeln.
Die im Untertitel genannte „Praxis“ steht im Zentrum der beiden Kapitel über Anna Schmidt-Schklowskaja (1901-1961). Sie war eine Schülerin Felix Blumenfelds und in ihrer eigenen Unterrichtspraxis sehr erfolgreich in der Behandlung von Pianisten mit Spielhemmungen und Handschmerzen. Grundlage ihrer Arbeit ist eine systematisch aufgebaute Reihe von Übungen, die zu einer gelösten, kraftsparenden und klanglich differenzierten Spielweise verhelfen können. Viele der Übungen sind bereits im Anfangsunterricht einsetzbar. Mit bildhaften Titeln kommt Schmidt-Schklowskaja der Auffassungsfähigkeit von Kindern entgegen, ohne ihre anspruchsvolle Zielsetzung aus dem Blick zu verlieren.
Die Reihe beginnt mit gymnastischen Vorübungen, wendet sich dann der Tonbildung zu und behandelt anschließend grundlegende technische Anforderungen wie Tonleitern, Sprünge, Doppelgriffe usw. Dabei geht es immer wieder um Möglichkeiten der Kraftersparnis, das Empfinden des Arms als Einheit, weiche Dehnungen aus der Mittelhand heraus sowie differenziertes Fingerspitzengefühl. Bei jeder Übung beschreibt die Pädagogin genau das Spielgefühl und lenkt so die Aufmerksamkeit konsequent auf die kinästhetische Wahrnehmung und die Qualität des Bewegungsablaufs. Auch auf die Tonqualität wird immer wieder hingewiesen.
Es ist ein großer Gewinn für die Klavierpädagogik, dass Böll und Großmann diese Übungen nun in deutscher Übersetzung vorlegen. Besonderen Wert erhält das Buch durch die erhellenden Kommentare der Autorinnen und die gelungene Einbettung der Übungen in den Gesamtzusammenhang der russischen Klaviertradition.
Sigrid Naumann