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Klaus, A. Sophie

Übe, was dir gelingt

Wie das richtige Feedback Lernprozesse beschleunigt

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 4/2023 , Seite 22

Konstruktive Kritik war für mich lange Zeit die effektivste Art der Rück­meldung, um mein Instrumentalspiel zu verbessern. Als Schülerin und Studienanfängerin erwartete ich von meinen Lehrkräften eine präzise Analyse meiner spieltechnischen und musikalischen Defizite sowie Tipps, wie ich diese so zügig wie möglich beseitigen konnte. Je unerbittlicher Probleme aufgedeckt wurden, desto schneller meinte ich Fortschritte zu machen. Während meines Studiums änderte sich diese Sicht drastisch: Ich erkannte, dass präzises Lob und Anerkennung meinen Lernprozess entscheidend beeinflussen und sogar beschleunigen!

Im vierten Studienjahr nahm ich an einem Experiment teil, welches aufzeigte, dass es sinnvollere und schnellere Wege gibt, an das gewünschte Ziel zu kommen als durch harsche Kritik. Durch das Erasmus-Austauschprogramm war es mir möglich, ein Jahr an der Edsberg Akademie in Stockholm zu studieren. Die Akademie zeichnet sich durch einen Fokus auf Kammermusik und höchste künstlerische Qualität aus. Insbesondere auf mich als Cellistin wirkte die Atmosphäre inspirierend, da in den gleichen Räumen die großen skandinavischen Cellisten und Cellopädagogen Frans Helmerson, Torleif Thedéen und Truls Mørk unterrichtet bzw. studiert hatten. Die Lernatmosphäre in der Akademie war durch die räumlichen Gegebenheiten und die geringe Anzahl an Studierenden äußerst angenehm und intim gehalten.
Unterricht erhielt ich bei Jakob Koranyi, Schüler von Frans Helmerson und Torleif Thedéen, der damals noch am Anfang seiner pädagogischen Karriere stand und mit neuartigen Ideen mein bereits verstaubtes Studiengemüt erfrischte. So führte er mit seiner Klasse, zu der außer mir noch vier weitere CellistInnen gehörten, ein Experiment durch: In den wöchentlichen Klassenstunden sollten alle Studierenden etwas vorspielen und sich gegenseitig kommentieren, doch es war ausschließlich positives Feedback erlaubt. Nur Lob und Anerkennung durften wir uns gegenseitig geben!

Beobachtungen

Zu Beginn war ich von diesem Vorschlag enttäuscht, denn ich war mir sicher, mit diesem Ansatz nichts zu lernen. Zugleich empfand ich es als unangenehm, vor der Klasse zu sitzen und nur gelobt zu werden. In den ersten Klassenvorspielen fühlten sich die anerkennenden Worte völlig absurd an – vor allem, wenn ich mich selbst über einige verunglückte Passagen ärgerte. Doch meine Ablehnung schwand zunehmend: Denn wenn es nicht um mein eigenes Musizieren ging, musste ich für die anderen anerkennende Worte finden. Dies fiel mir mit meiner auf Fehler und Prob­leme geschulten Zuhör- und Sichtweise ext­rem schwer. Meine Mitstudierenden hatten ein unglaublich hohes Spielniveau; es lag also nicht daran, dass es keine positiven Aspekte gegeben hätte!
Die Erkenntnis, dass ich mich stets darauf versteifte, Probleme und Kritik zu suchen, anstatt den positiven Aspekten zu folgen, traf mich hart. Um den Anforderungen des Experiments gerecht zu werden, trainierte ich mir ein völlig neues Zuhören an, bis ich meinen KlassenkammeradInnen mit deutlich fokussierter, positiver Intensität folgen konnte.1 Erstaunlicherweise übertrug sich die Konzentration auf die positiven Aspekte der gespielten Musik nach wenigen Wochen auf mein eigenes Spiel und wirkte sich darüber hinaus in großem Maß auch auf mein eigenes Übeverhalten aus. Mir fielen gut gestaltete Passagen und Noten schneller auf und anstatt an einzelnen Problemen herumzudoktern und Fehler auszumerzen, arbeitete ich jetzt daran, die positiven Aspekte einzelner Stellen auf ganze Werke auszubreiten. Mein Gehör begann, sich auf noch feinere Details zu konzentrieren, wodurch meine innere Klangvorstellung konkreter wurde. Außerdem vervielfachte sich die reine Spielzeit während meines Übens.
Die größte Überraschung hinsichtlich der Effektivität dieser Feedbackmethode erlebte ich bezüglich einiger altbekannter Probleme, die ich während meines Auslandjahres beheben wollte. Dazu gehörte unter anderem ein zu kleines und unterbrochenes Vibrato, insbesondere in höheren Lagen. Seit mehreren Jahren feilte ich an diesem Punkt, doch wenig hatte sich bisher verbessert. In einer unserer Klassenstunden erhielt ich dann ein Lob eines Mitstudenten bezüglich meines Vib­ratos, das ihm in einer bestimmten Passage besonders gut gefallen hatte. Und tatsächlich! In der Woche darauf war mein leidiges Vibratoproblem plötzlich wie vergessen. Es war weder zu klein noch stockend; auf einmal hatte ich genau das Vibrato, das ich mir immer gewünscht hatte.

Analyse

Was war geschehen? Warum konnten meine KommilitonInnen und ich in kurzer Zeit plötzliche große Verbesserungen erreichen? Folgende Erklärung scheint mir schlüssig: Durch das Lob werden keine prinzipiell neuen Fähigkeiten erworben, sondern Fähigkeiten, die im Keim vorhanden sind, werden auf einmal überhaupt wahrgenommen und können sich daher entfalten. So auch bei meinem Vib­rato: Die Fähigkeit war bereits vorhanden, doch durch die gewohnte Kritik bezüglich meines Vibratos fokussierte ich mich darauf, mögliche Fehler zu verhindern, anstatt dem eigentlichen Ziel, mithin der Realisation meiner Klangvorstellung nachzugehen. Die Loslösung von meiner Arbeitshaltung des „Fehler-und-Kritik-Vermeidens“ hin zum „Konkreten-Ziel-Ansteuern“ hatte den Effekt, dass ich in bisher ungekannter Schnelligkeit Fortschritte machte.
Auch bei meinen Mitstudierenden nahm ich während des Experiments rasch eintretende Verbesserungen wahr. Zudem schienen sich die positiven Rückmeldungen besser im Gedächtnis zu verankern, denn immer wieder sprachen wir über die anerkennenden Worte, die wir erhalten hatten. Wir lernten, dass es nicht um schwammige Lobhudelei geht, sondern um genaues Hinhören sowie um sorgfältig gewählte, wertschätzende Formulierungen. Dadurch kreierten wir in den Klassenstunden eine äußerst unterstützende Lern­atmosphäre. Die traditionelle Erzeugungs­didaktik, in der die Lehrkraft durch auf Prob­leme fokussierte Instruktion die Studierenden zu formen versucht, ließen wir dabei weit hinter uns. Stattdessen ergab sich durch den geforderten Fokus auf die positiven Aspekte eine detaillierte Auseinandersetzung mit den individuellen Leistungen der Vorspielenden.2 Diese systemisch-konstruktivistische Ermöglichungsdidaktik wirkte sich unmittelbar auf die Schnelligkeit unserer Fortschritte im Musikalischen wie im Spieltechnischen aus.3

1 weitere Überlegungen zum Thema Zuhören in: üben & musizieren, Heft 6, 2022; Lessing, Wolfgang: „Zuhören?!“, in: Mahlert, Ulrich: Handbuch Üben, Wiesbaden 2006, S. 312 ff.
2 Anregungen zum Thema Kritik und Rückmeldung: ­Elliott, David J./Silverman, Marissa/McPherson, Gary E.: „Philosophical and Qualitative Perspectives on Assessment in Music Education: introduction, aims, and overview“, in: dies. (Hg.): The Oxford Handbook of Philosophical and Qualitative Assessment in Music Education, 2019, S. 2-26, https://doi.org/10.1093/oxfordhb/ 9780190265182.013.1 (Stand: 21.6.2023).
3 zu den Vorteilen einer Ermöglichungsdidaktik: Mahlert, Ulrich: Wege zum Musizieren. Methoden im Instrumental- und Vokalunterricht, Mainz 2011, S. 35-40.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2023.