Kahl, Reinhard

Üben? Üben?! Üben!

Plädoyer für ein Üben, das verwandelt und stärkt

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 3/2012 , Seite 42

Üben? Das klingt für viele wie eine Drohung. Üben – ist das nicht der Versuch, Menschen gegen den Strich zu bürsten? Den Linkshänder zum Rechtshänder umzuschulen? So klingt der eine Sound von Üben. Gewissermaßen das Exer­zieren auf dem Kasernenhof. Dieses Üben ist zwar vergangen, weitgehend zumindest, aber es sitzt vielen noch in den Knochen. Ein anderes, wieder zu ­entdeckendes Üben wären die Selbst­kultivierung und die Lebenskunst: Üben als die Steigerung des Könnens und als ein Weg zur Meisterschaft.

Carl Hermann Unthan wurde 1848 in Ostpreußen ohne Arme geboren. Er starb 1929 als weltberühmter Violinist. Er geigte mit den Füßen. Artistisch. „Wer von Geburt an auf ­eigene Versuche angewiesen ist und nicht daran gehindert wird“, notierte er, „bei dem entwickelt sich ein Wille zur Selbstständigkeit.“ – „Der Mensch übersteigt unendlich den Menschen“, schrieb vor fast 400 Jahren Blaise Pascal, Mathematiker und Philosoph. Er war sich sicher, dass in jedem und jeder viel mehr steckt, als er oder sie jemals realisieren wird. Der Katholik Pascal glaubte daran, dass Menschen sich gegenseitig über­raschen können und sollten. Es müssen allerdings Milieus geschaffen werden, damit sie ihre Möglichkeiten erfahren und ihre Fähigkeiten üben, ausüben und entfalten.
Üben und ausüben, das ist etwas anderes, als passiv belehrt und abgefüllt zu werden. Der Psychiater und Lernforscher Manfred Spitzer verblüfft gern sein Publikum. Gleich zu Beginn zeigte er in einem seiner Vorträge die Abbildung eines fast um die Hälfte amputierten Gehirns eines Kindes. Es musste bald nach der Geburt operiert werden. Im Alter von sieben Jahren spricht das Mädchen zwei Sprachen. Sein Gehirn hat sich trotz des erheblichen Einschnitts gut organisiert.
Der Neurobiologe Gerald Hüther fragt: Was heißt eigentlich Selbstorganisation? Auch seine Frage führt zu den Milieus und zu der Atmosphäre von Lebenswelten und Institutionen. Denn Aufgabe von Bildungsinstitutionen ist doch, das Gelingen von Selbstorganisation zu ermöglichen! Peter Sloterdijk nimmt diesen Faden auf. Zu den mensch­lichen Möglichkeiten gehört ja nicht nur, aus Talenten etwas zu machen, sondern auch aus Schwächen. In seinem jüngsten Buch Du musst dein Leben ändern, das für eine Erweiterung der Übungszone plädiert, fragt er im Anschluss an den ohne Arme geborenen Violinisten Carl Hermann Unthan: „Falls Überkompensation von Behinderung das Geheimnis des Erfolgs ist, wäre hieraus zu folgern, die meisten Menschen seien nicht behindert genug?“
„Üben ist für Kinder ein Schreckgespenst“, sagte der große Pianist und Komponist Arthur Schnabel. Er wollte das Wort am liebsten verbieten. „Ich muss jetzt üben“, sagt der Schüler mit verquältem Gesicht. Üben und Müssen sind bei ihm zu einer freudlosen Liaison verwachsen. Und nicht nur bei ihm. Üben wurde so etwas wie eine zur Bewährung ausgesetzte Vorstrafe auf den so genannten Ernst des späteren Lebens. Mit diesem Üben will man nichts zu tun haben. Und so wurde wieder Mal das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.

Lernen mit Leidenschaft

Was aber Üben wirklich ist, sieht man bei den Kindern. Ein Baby zieht sich am Stuhl hoch und fällt hin. Es richtet sich am Hosenbein des Vaters auf und wieder fällt es. So geht das vielleicht wochen- oder sogar monatelang. Erwachsene hätten längst aufgegeben. Aber Kinder machen weiter, bis ihnen das Laufen wie automatisch gelingt. In Phasen der Unlust sammeln sie neue Energie. Aus Leiden bilden sie Leidenschaft. Ohne Leiden, auch das kann man von Kindern lernen, geht es nicht. Aber irgendwann kann dann jeder laufen. Laufen ist eine schöne Metapher. Physiologisch gesehen ist es aufgefangenes Fallen, Wechsel von Stabilität in Instabilität, Schritt für Schritt. Beim Laufen-Lernen macht jeder seinen Grundkurs im Üben. Wir lernen von Fall zu Fall und wir lernen uns im Fallen zu fangen.
Man stelle sich vor, Kinder würden laufen und sprechen so lernen wie in der Schule. Erst die Regeln und Theorie. Alles im Sitzen. Dann Anwendungen. Schließlich sechs Wochen ins Praktikum. „Ach nein“, würden viele Lehrkräfte sagen, „keine sechs Wochen Praktikum, wir müssen doch mit dem Stoff vorankommen, lieber nur vierzehn Tage.“ Wer könnte danach laufen oder sprechen?
Üben ist eben keine Dressur, ist eben nicht die Zwangsumschulung des Linkshänders zum Rechtshänder oder das Einbläuen der Flötentöne. Das sind Perversionen des Übens. Das hervorragende Buch des Musikwissenschaftlers Heiner Klug Musizieren zwischen Virtuosität und Virtualität zeigt, wie die Musikerziehung im 19. Jahrhundert kippte. Üben war bis dahin, was man heute kontinuierliche Verbesserung nennen könnte. Bachs Goldberg-Variationen waren Übungen, aber nicht nach dem Muster „Jetzt üben, um später etwas zu können“. Es waren Erkundungen im weiten Feld von Kunst und Kunstfertigkeit. Üben und Ausüben, so Klug, waren das Gleiche. „Übung war jede Beschäftigung mit dem Inst­rument, jedes Spiel, unabhängig vom ­Niveau: vom Anfänger bis zum Meister, der Vortrag inbegriffen.“ Übungsstücke waren „Muster und Anregungsstücke zum Selbsterfinden“. Lehrer improvisierten zuweilen wie heutige Jazzmusiker und die meisten komponierten zumindest ein bisschen. Üben war eine Wechselwirkung von Ohr und Hand bzw. Mund.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 3/2012.