Herbst, Sebastian

Über die Schwelle geöffneter Türen

Der Kommentar

Rubrik: Kommentar
erschienen in: üben & musizieren 4/2022 , Seite 39

Die Politik in Europa scheint sich zunehmend für musikalische Bildung zu engagieren. So erhalten alle Spanierinnen und Spanier, die in diesem Jahr volljährig werden, einen Kulturgutschein im Wert von 400 Euro, um die durch Corona geschwächte Kulturlandschaft zu stärken und jungen Menschen einen Zugang zu kulturellen Angeboten zu schaffen. 100 Euro dürfen für physische Medien (z. B. Bücher, CDs, DVDs), weitere 100 Euro für digitale Produkte und Online-Plattformen (z. B. Musik, E-Books, Podcasts) und 200 Euro für den Kauf von Eintrittskarten zu kulturellen Veranstaltungen ausgegeben werden (z. B. Museen, Bibliotheken, Ausstellungen, Kino, Konzerte, Festivals). Ähnliche Programme gibt es in Frankreich (300 Euro) und Italien (500 Euro).
Ein Blick nach Wales führt zu einem weiteren interessanten Programm, das allen Kindern, unabhängig von ihrer sozioökonomischen Herkunft, ermöglichen soll, ein Instrument zu spielen. Konkret enthält das Progamm 2021 bis 2026 der walisischen Regierung einen „National Plan for Music Education“, der einen gerechten Zugang zu musikalischer Bildung für Kinder und Jugendliche im Alter von 3 bis 16 Jahren sicherstellen soll. Dazu setzt die Regierung seit Mai 2022 einen „National Music Service“ ein, der für die Umsetzung des Plans verantwortlich ist.
Die näheren Ausführungen starten bemerkenswert und weitreichend, denn dort heißt es, dass das Musik-Erleben, das insbesondere durch Musizieren erfolgen soll, „the heart of every school and setting“ sein soll. Darüber hinaus wird noch ein weiteres Motiv deutlich: Kinder und Jugendliche sollen das kulturelle Leben und Erbe kennenlernen und einige von ihnen sollen zu Musikerinnen und Musikern werden, die die walisische Musikkultur in die Welt tragen und erhalten – so Jeremy Miles, Minister for Education and the Welsh Language.
Mit einem Schwerpunkt auf Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Haushalten oder in anderer Weise benachteiligten Kindern und Jugendliche soll diesen ab September 2022 ermöglicht werden zu musizieren. Darüber hinaus soll in diesem Rahmen ein Programm für das gemeinsame Musizieren entwickelt werden, das Ensemblestrukturen reaktiviert und die Erfahrung gemeinsam produzierter Live-Musik ermöglicht. Interessant ist zudem das Vorhaben, eine nationale Instrumenten-, Ressourcen- und Equipmentbibliothek aufzubauen, die (adaptive) Musikinstrumente, und digitale Aufnahmegeräte bereithält. Auch an die Lehrenden wird gedacht: Im Jahr 2021/22 wurden 1,32 Millionen Pfund investiert, um eine digitale Plattform mit Zugang zu Lernmaterialien zu entwickeln.
Vom musizierenden Wales noch ein Blick nach Luxemburg, das erst kürzlich durch die Einführung eines neuen Gesetzes die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Ab dem Schuljahr 2022/23 soll ein Großteil des Musik-, Sprech- und Tanzunterrichts in den kommunalen Musikschulen kostenlos sein. Hierzu gehören laut Pressemitteilung des Ministeriums für Bildung, Kinder und Jugend u. a. „die jeweils dreijährige musikalische, instrumentale sowie tänzerische Früherziehung mit der darauffolgenden allgemeinen Gehörbildung, Instrumentalausbildung, die Gesangsausbildung, Tanzausbildung sowie die Theater- und Sprechkunstausbildung bis zum Diplom der ersten Stufe“. Damit umfasst das kostenlose Angebot einen Zeitraum von sieben Jahren. Kostenpflichtige Kurse werden darüber hinaus auf 100 Euro pro Fach und Schuljahr begrenzt – auch für erwachsene Schülerinnen und Schüler.
Das politische Engagement ist bemerkenswert, der Einsatz derartig finanzieller Mittel höchst erfreulich. Damit wird dazu beigetragen, dass die Türen zur musikalischen Bildung weiter geöffnet werden. An den Pädagoginnen und Pädagogen wird es liegen, inwiefern die Angebote in vielfältiger Weise genutzt werden, wie es also gelingen kann, dass die Türschwellen von zuvor teils verschlossenen Türen überschritten und die dahinterliegenden Räume nachhaltig bespielt werden
In Spanien erhalten die jungen Menschen eben nicht nur Zugang zu kulturellen Angeboten durch Abbau finanzieller Hürden. Sie entscheiden zudem mit, welche kulturellen Bereiche von den finanziellen Mitteln des Landes unterstützt werden – möglicherweise Bereiche, die bei jungen Menschen auch schon zuvor besonders beliebt waren. Maßnahmen zur Stärkung derjenigen Bereiche, zu denen junge Menschen von sich aus noch keinen Zugang hatten, sind ebenso notwendig – nicht nur finanzieller Art. Und auch der Musizierunterricht in Wales und Luxemburg bedarf zum einen Strategien, um benachteiligte Kinder und Jugendliche bei der Hürde der Anmeldeformalitäten zu unterstützen, und zum anderen Pädagoginnen und Pädagogen, die für Musik und das Musizieren begeistern. Die Investition in die Aus- und Weiterbildung qualifizierter Musikpädagoginnen und -pädagogen kann also gar nicht überschätzt werden.