Bradler, Katharina
Und was kommt nach der Pilotphase?
Eine Zwischenbilanz zum Streicherklassenunterricht
Wer Streicherklassen unterrichtet, gilt längst nicht mehr als Exot unter Musiklehrenden. Seit nunmehr zwanzig Jahren haben sich in Deutschland unterschiedliche Modelle des Streicherklassenunterrichts etabliert. Mit der Vielzahl an Angeboten wächst jedoch nicht nur die Schülerzahl, sondern auch die Gefahr der Vereinzelung.
Heute fester Bestandteil vieler Schulcurricula, blickt der Streicherklassenunterricht auf eine traditionsreiche Geschichte zurück. In den USA wurden bereits 1911 erste Violinklassen in allgemein bildenden Schulen eingeführt, Ende der 20er Jahre folgte die Gründung erster heterogener Streicherklassen, wie wir sie heute kennen: Schülerinnen und Schüler erlernen eines der Streichinstrumente Violine, Viola, Cello oder Kontrabass von Beginn an im Klassenverband. Don Miller brachte die Idee des Klasseninstrumentalunterrichts in den 80er Jahren nach Deutschland. Aus den Fortbildungen erwuchsen in den 90ern erste Pilotprojekte, die bis heute zahlreiche Ableger gefunden haben. Im Jahr 2008 zählte der VdM 4632 StreicherklassenschülerInnen, ein Jahr später bereits 5822. Die Schülerzahlen der unabhängig von Musikschulen durchgeführten Streicherklassen sind noch hinzuzurechnen. Heute könnten die Organisationsformen kaum vielfältiger sein.1 Formen wie das Mainzer Modell, das Hessische Modell, das Vier-Jahres-Modell u. a. haben sich einen Namen gemacht.2
Vernetzen statt vereinzeln
So blühend die Vielfalt ist, so problematisch wird sie, wenn sie keiner Evaluation unterliegt. Gerd Arendt hat die langfristigen Dimensionen des Klassenmusizierens untersucht und damit das „Informationsvakuum“ offen gelegt,3 das es in den nächsten Jahren zu füllen gilt, will sich Streicherklassenunterricht als Unterrichtsform Nachhaltigkeit schaffen. Da „der Trend zum Klassenmusizieren sozusagen ‚von unten‘ kam, indem Lehrer sich dafür aus- und weiterbildeten, und zwar außerhalb der etablierten akademischen Musikpädagogik und -didaktik“,4 ist in diesem Bereich bis heute ein Defizit an Forschung zu beklagen. In seiner Dissertation deckt Arendt zahlreiche definitorische Ungenauigkeiten auf. Umso wichtiger ist es, nach der erfolgreichen Anfangsphase Hochschulen, Fortbildungsinstitutionen, allgemein bildende Schulen und Musikschulen zu vernetzen, um Streicherklassenunterricht gegenüber anderen Projekten inhaltlich abzugrenzen und Wissenslücken zu schließen.
Es gilt, aus dem „Boom“5 eine qualitativ hochwertige, entwicklungsfähige und langfristig angelegte Unterrichtsform zu machen. Ein Schritt in die richtige Richtung war der diesjährige Internationale Kongress zum Streicherklassenunterricht in Trossingen (siehe üben & musizieren 1/2010, Seite 40). Doch wie können Kompetenzen gebündelt werden, wenn nur ein „Lager“ der in Deutschland vertretenen Fortbildungsteams am Kongress teilnimmt? Erst wenn Inhalte und Organisationsformen zusammengefasst werden, kann ein Kern entstehen, der Ableger von Ablegern offen legt und der Gefahr entgeht, Binsenweisheiten zu verbreiten. Nicht jede Streicherklasse, die glänzt, weist eine sinnvolle Unterrichtsstruktur auf.
Viele jedoch tun es. Und die sollten weiter poliert werden. Es nützt nichts, das Dach eines Bauwerks auf Hochglanz zu bringen, wenn das Fundament rostet. Dafür dürfen wir nicht zu individualistisch vorgehen – das wusste schon Paul Rolland. Er engagierte sich in den USA der 1950er Jahre für eine „Streicherrenaissance“: „When paving the way for the rebirth of strings, we must not be too individualistic in our efforts or else the cause of strings may fall once again.“6
1 Gegenwärtig findet sich Streicherklassenunterricht in Form von erweitertem Musikunterricht bzw. Musikklassen/einstündigem bzw. mehrstündigem Musikunterricht/AG/Betreuungsangebot/Kurs a) an allgemein bildenden Schulen, b) an allgemein bildenden Schulen in Kooperation mit Musikschulen, c) an allgemein bildenden Schulen in Kooperation mit Privatlehrkräften, d) an Musikschulen.
2 vgl. Juliane Bremer: Streicherklassenunterricht. Herausforderungen, Risiken und Chancen, theoretische Arbeit zum Diplom an der Hochschule für Musik und Theater Rostock 2007, S. 12-17.
3 vgl. Gerd Arendt: Instrumentalunterricht für alle? Zur langfristigen Relevanz des Klassenmusizierens und der Notwendigkeit einer Reform des Musikunterrichts (Forum Musikpädagogik, Band 91), Augsburg 2009, S. 11.
4 Werner Jank: „Plädoyer für Artenvielfalt“, in: Hans-Ulrich Schäfer-Lembeck (Hg.): Klassenmusizieren als Musikunterricht!? Theoretische Dimensionen unterrichtlicher Praxis. Beiträge des Münchner Symposions 2005 (Musikpädagogische Schriften der Hochschule für Musik und Theater München, Band 1), München 2005, S. 110.
5 „Mittlerweile kann man von einem regelrechten Boom sprechen; die Anzahl der Schulen aller Schularten, die sich dem Klassenmusizieren verschreiben, steigt ständig […].“ (Ludwig Striegel: „Klassenmusizieren als integratives Unterrichtskonzept: Das Mainzer Modell“, in: Schäfer-Lembeck, a. a. O., S. 118).
6 Paul Rolland zit. nach Paul Barton Grover: The history of string class instruction in American schools and its relationship to school orchestras, University of Illinois, Ann Arbor 1960, S. 151.
Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2010.