Thielemann, Kristin

Unterricht im Freien?

Wie „Outdoor-Unterricht“ zu erstaunlichen Fortschritten führen kann

Rubrik: Bericht
erschienen in: üben & musizieren 1/2012 , Seite 38

Schon eine ganze Weile hatte ich im Hinterkopf, meinen Trompetenunterricht ein oder zwei Mal an einer schönen Stelle draußen im Wald oder im Park zu geben. Noch aus meiner Studienzeit war mir ein Meisterkurs in Norwegen in bester Erinnerung, bei dem ich – mangels Geld – mit meinem Zelt auf einem winzigen Campingplatz an einem Fjord unterkam und dort jeden Tag nach dem Kurs draußen bei Sonnenuntergang meine Stücke mit Blick auf die norwegische Natur spielte. Das Instrument hatte in diesen Augenblicken einen ganz besonderen Klang und ich genoss dieses Flair. Wenn ich noch Jahre später die Stücke blies, die ich damals am Fjord geübt hatte, konnte ich mich an die untergehende Sonne, den Duft der Blumen und den Wind über dem Wasser erinnern und musizierte diese Stücke viel intensiver und ganz selbstverständlich in dem berühmten „Flow“-Gefühl, wonach so viele Musikerinnen und Musiker streben.
Doch wie könnte ich diese tolle Erfahrung an meine SchülerInnen weitergeben? Welche Stelle im Wald sollte ich aussuchen? Wie würde ich das passende Datum finden? Das Wetter müsste mitspielen und natürlich war ich darauf angewiesen, dass eventuelle Nachbarn oder Spaziergänger im Wald sich nicht beschweren. Ich müsste den Ort den Eltern und Schülern gründlich beschreiben, damit sie ihn finden können. Und würden sie sich überhaupt auf meine Idee einlassen?
Kurz gesagt: Ich hatte diese Pläne vor mir hergeschoben und vergessen – bis eines Tages an einem sonnigen Montag eine Hornisse in meinem Unterrichtszimmer auftauchte und über dem Kopf meines 8-jährigen Schülers kreiste, der verständlicherweise leicht panisch wirkte. Ich öffnete die Fenster und versuchte erfolglos, den Riesenbrummer an die frische Luft zu befördern. Als die Minuten voranrückten und es nicht danach aussah, als ob der kleine Schüler heute noch viel lernen würde, fasste ich mir ein Herz und sagte ihm, er solle sein Instrument einpacken: Wir würden nach draußen zum Trompete spielen gehen und die frische Luft genießen, während die Hornisse gerne im Übezimmer bleiben könne.
Das Schulhaus, in welchem ich montags unterrichte, liegt etwas abseits des Dorfes Hugelshofen (Schweiz), inmitten der leicht hügeligen Landschaft südlich des Bodensees, am Rande eines kleinen Wäldchens. Der Schüler und ich machten uns auf den Weg: Ich war bepackt mit Notenständer, Unterrichtsliteratur und Instrument, außerdem zwei Flaschen Mineralwasser und einigen Pappbechern. Die Tür zu meinem Unterrichtsraum im Schulhaus hatte ich sperrangelweit offen gelassen und dahinter ein Flipchart in Szene gesetzt. Darauf die Aufschrift: „Heute Outdoor-Unterricht beim Wäldchen hinten rechts. Gruss, Krissi“ – und für alle Fälle meine Handynummer.
Beim Wäldchen angekommen stellte sich heraus, dass es in einem Unterstand neben einem winzigen Weiher einen hölzernen Tisch und einige Partybänke sowie Baumstümpfe als Sitzgelegenheit gab. Wir machten es uns unter einem Apfelbaum bequem und begannen mit dem Unterricht. Statt der vorgesehenen 30 Minuten Unterricht waren durch die Hornisse und den Weg zum Wäldchen bereits 15 Minuten verstrichen; die nächste Schülerin würde wahrscheinlich fünf Minuten zu spät kommen, weil sie auch den Weg zum Wald bewältigen musste. Also blieben für uns nur noch 20 Minuten.
Ich rechnete fest damit, mit dem Unterrichtsstoff nicht annähernd durchzukommen, und begann nach Alternativen zu grübeln, während mein Schüler eine Zeile nach der anderen vorankam. Ein Blick zur Uhr verriet mir jedoch, dass wir nun gut in der Zeit lagen. Und so blieb am Ende der Stunde sogar noch Zeit für eine große Portion Lieblingsduette und einige Atemübungen. Ich war verblüfft, in 20 Minuten „Outdoor-Unterricht“ das Pensum geschafft zu haben, wofür ich im Übe­raum sicher zehn Minuten länger gebraucht hätte.
Meine Erfahrung bestätigte sich bei den nächsten SchülerInnen: Während ab und zu ein Blatt (zum Glück kein Apfel) vom Baum segelte, sich eine Mücke auf die Noten setzte und auf der Wiese vor dem Wäldchen die Schafe blökten, waren die SchülerInnen hochkonzentriert und schafften das Unterrichtspensum im Durchschnitt um ein Drittel schneller als sonst. So blieb im Unterricht mehr Zeit für die „weichen Standortfaktoren“, wie ich sie nenne: Rhythmus- und Intervallspiele, die Spaß machen und gleichzeitig die Schüler-Lehrer-Beziehung stärken, Gespräche über Musikgeschichte und natürlich auch Belangloses aus Schule und Alltag, was aber den SchülerInnen stets wichtig ist zu erzählen.
Zum Abschluss der Stunde fragten die SchülerInnen von sich aus, ob in der nächsten Woche wieder „Outdoor-Unterricht“ sei. „Möchtest du denn?“, fragte ich gespannt. „Ja, klar!“, bekam ich stets als Antwort. Und so saß ich auch am folgenden Montag wieder in der frühherbstlichen, sonnigen Schweizer Landschaft und hielt meinen Unterricht ab.
Im Vergleich zu anderen Unterrichtstagen war ich abends nach dem „Outdoor-Unterricht“ viel entspannter und geradezu ausgeruht. Beim ersten Schlechtwetter-Montag, an dem der Unterricht wieder im gewohnten Übezimmer stattfand, stellte ich erstaunt fest, dass alle SchülerInnen klanglich große Fortschritte gemacht hatten. Der Ton klang voller, runder und hatte einen ganz natürlichen Strahl. Ob das an unserem Unterricht im Wäldchen lag!?
Jetzt sind Herbstferien. Danach ist sicher das Wetter zu schlecht, um in diesem Jahr noch einmal draußen zu unterrichten. Außerdem gibt es im Wald natürlich weder ein Klavier noch einen CD-Player. Trotzdem leuchtete mir kürzlich auf meiner Facebook-Pinnwand der Eintrag einer Montags-Schülerin entgegen: „Im nächsten Jahr wieder Outdoor-Unterricht Trompete!“ – und darunter: „12 Personen gefällt das!“

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