© marqs_stock.adobe.com

Tarr, Irmtraud

„Verflixte“ Pubertät?!

In der Adoleszenz stehen viele Jugendliche vor einem ­bislang unbekannten Problem: Lampenfieber

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2018 , Seite 18

In der Pubertät kämpfen Musik­schülerInnen, die zuvor unbefangen musizierten, plötzlich mit Lampen­fieber beim Musizieren coram pub­lico. Sie benötigen einfühl­same und gezielte Unterstützung, ausgewählte Impulse und musikpädagogischen Beistand vor, während und nach Auftritten. Denn: Musik hat in dieser Lebensphase eine große soziale und entwicklungspsychologische Rele­vanz.

Wer kennt sie nicht, die Pubertät? Das Körperwachstum nimmt in kürzester Zeit rapide zu, Organsysteme strukturieren sich um, das Gehirn ist eine Großbaustelle, die Hormone wallen, das „Kind“ entwickelt plötzlich neue Interessen und die Peergroup hat deutlich mehr zu sagen. Streit liegt manchmal in der Luft und wie es drinnen aussieht, geht keinen Erwachsenen etwas an… Modi und Tempi wechseln im Minutentakt. Ausgerechnet in dieser Phase, in der man für das andere Geschlecht attraktiv erscheinen möchte, sehen viele Pubertierende wegen Akne, Pickeln und Fisteln im Gesicht aus wie Pizza. Das Körpergefühl ändert sich. Laut neuer deutscher Studien fühlt sich die Mehrheit der Pubertierenden hässlich. 80 Prozent der 17-jährigen Mädchen fühlen sich angesichts des heute herrschenden Modeideals zu dick. Zur Beruhigung: Die Pubertät hat ein Ende. Doch beginnt sie heute früher: Das Längenwachstum setzt bei Mädchen bereits mit etwa zehn Jahren ein – Jungen folgen etwa zwei Jahre später. Im Durchschnitt ist der Umbau mit ca. 17 Jahren bei Mädchen und 19 Jahren bei Jungen abgeschlossen.
Typische Probleme im Umgang mit pubertierenden Jugendlichen haben nicht nur physiologische Ursachen. Vor allem auch die Art und Weise, wie sie die anstehenden Entwicklungsaufgaben bewältigen und wie sie von ihrem Umfeld unterstützt werden, bedingen den Verlauf der Pubertät. Von klinisch auffälligen Pubertätskrisen ist nur eine Minderheit betroffen, die meisten psychischen Auffälligkeiten gehen nach der Pubertät wieder zurück. Grundsätzlich gilt: Die Pubertät verläuft bei jedem jungen Menschen anders.

„Du auch?“ – „Ja, ich auch!“

Plötzlich ist das komplizierte Spiel von Anziehungen, Bündnissen und Vorlieben eröffnet. Es gibt zwei Reiche: das der Sicherheit elterlicher Liebe und der Ruf der Gruppe, die ihre eigene Sprache, Gesetze, Komplizen, Qualen, Witze und Wonnen besitzt. Es gibt Bewährungsproben, die nicht nur Spaß machen, sondern vor allem mit Angst und Risiko konfrontieren: der Sprung vom Dreimeter-Brett, die ohne Murren hingenommene Hierarchie in der Gruppe, die erste Zigarette. Die Freuden und Leiden des Abenteuers in der Gruppe, die Höhenflüge und Abstürze dieser ­Geheimgesellschaft, die heimlichen Wonnen der hautnahen Tuchfühlung, das Gekicher und Geflüster über „Oberpein­liches“, die Vermischung von Fantasiertem und Erlebtem: All das sind Antworten auf die Notwendigkeit, sich den diffusen Ängsten zu stellen, statt ihnen auszuweichen.
So viele Fragen, so viele Unsicherheiten, so viel Lust, ein Jemand zu werden, und so viel Hunger nach Bestätigung: „Du auch?“ – „Ja, ich auch!“ Auch ich habe Angst, dass sie mich doof findet, dass die anderen über mich lachen könnten, dass ich nicht eingeladen werde; auch ich traue mich nicht, auch ich habe meine Eltern angelogen, auch ich weiß nicht genau, wie man küsst, auch ich langweile mich. So viel Nichtverstehen und Nichtbegreifen. Dies führt zu permanenten Spannungen und Zerreißproben: einerseits dazugehören, andererseits sich unterscheiden zu wollen. Wie anders kann man fertig werden mit der Überfülle von Gefühlen und Empfindungen als über Gleichaltrige?
Insbesondere die Musik übt in dieser Zeit einen großen Reiz aus. In der Verbindung mit der Gruppe geht es um gefühlte Atmosphären und um Lebensentwürfe von realisierten und nichtrealisierten Lebensmöglichkeiten. Ein Beispiel dafür ist der Hip-Hop, der aus DJing, Breakdance, literarischem Rap und performativen Elementen besteht. Als Identitätsmuster hat er globale Bedeutung erreicht durch das Sich-Wiederfinden in der musika­lischen Umwelt und der Korrespondenz zwischen eigenen Sehnsüchten und den in der Musik transzendierten Lebensvorstellungen.

Adieu Geige!

Musik als Sozialisationsinstanz hat Auswirkungen auf den Musikunter­richt. Manchmal endet er damit, dass der bislang geliebten Geige für immer Lebewohl gesagt wird. Selbstverständlich kann die Peergroup der besten Freundinnen und Freunde klassischen Gesangs- und Inst­rumentalunterricht völlig uncool finden. Der jugendliche Musikgeschmack kann sich drastisch ändern. Die alterstypische Autonomisierung vom Elternhaus kann manchmal dazu führen, dass der Musik­unter­richt abgebrochen wird. Eine pubertäre Gegenreaktion, weil man glaubt, sich nur so frei strampeln zu können. Dies gilt besonders, wenn das im Wesentlichen von den Eltern ausgewählte Musikinstrument als „fremd“ oder aufgezwungen erlebt wird und nicht zum eigenen wurde.
Andererseits ist das Jugendalter auch eine Zeit, in der die Musikschülerin oder der Musikschüler in ein Jugendorchester oder einen Chor eintritt und in der Peergroup bis zur Auftrittsreife gemeinsam zu musizieren lernt. Ähnliche musikalische Interessen können die Lust am Musikmachen anregen – der junge Mensch bleibt bei seinem Instrument oder beim Gesang sogar mit Begeisterung, weil sie ihm die Möglichkeit geben, sich zu unterscheiden und dennoch dazuzugehören. Musizieren wird zur Leidenschaft und beflügelt, allein oder mit anderen unbekannte Stücke auszuprobieren und vorzuführen. Das Zusammenspiel neutralisiert nicht nur das Konkurrenzverhalten, sondern verwandelt es in ein gemeinsames Abenteuer, an welchem alle Mitspieler gleichermaßen beteiligt sind. Wenn dann noch Begabung hinzukommt, so wird dieses neidfreie gemeinsame Streben als pures Glück empfunden.

Vergleichen und Bewerten

Was macht man nun als MusikpädagogIn mit aufbrechendem Lampenfieber bei pubertierenden Jugendlichen? Im Kindesalter kannten sie Lampenfieber doch kaum – meist wurde unbefangen vor Publikum musiziert. Besonders 14- bis 19-Jährige und eher Mädchen als Jungen zeigen Symptome des Lampenfiebers: Anspannung, Schwitzen, Ängste. Im schlimmsten Fall vermeidet der Jugend­liche Auftritte – eine ungüns­tige Entwicklung. Doch zeitweise Selbstunsicherheit gehört zur Puber­tät: Die eigene Identität muss doch erst noch gefunden werden.
Gerade die Selbstexposition vor Publikum kann große Scham und Unsicherheit auslösen, weil einem vor den Augen anderer eine Leistung abverlangt wird, bei der man sich öffentlich exponiert. Der kritische Blick auf die eigenen musikalischen Fähigkeiten und der soziale Vergleich mit den musizierenden Peers spielen nun eine große Rolle – der Einfluss elterlichen Zuspruchs nimmt ab. Das Bewusstsein, dass andere nie nur indifferente Zuhörer sind, sondern bewertend reagieren, wirkt sich auf die Vorstellungskraft aus, man könne in ihren Augen versagen, durchfallen oder abgewertet werden. Eine Angst, die nun an prominente Stelle rückt, weil soziale Anerkennung beziehungsweise ihr Ausbleiben entscheidende Auswirkungen auf die fragile Identität und das Selbstwertgefühl haben. Bei manchen funktioniert diese Verunsicherung wie eine falsch oder zu scharf eingestellte Alarmanlage, die schon bei Kleinigkeiten anschlägt und zu Überreaktionen oder Rückzug führt. Deshalb ist es wichtig, diese Warnsignale aufzugreifen und über Ängste zu sprechen – auch wenn es schwer fällt.
Scham bedroht das Selbstwertgefühl. Aber Scham ist auch der ganz persönliche Rest der eigenen Besonderheit. Deswegen ist sie auch ein Schatz, den man gemeinsam ansprechen, aber nicht wegdiskutieren soll. Hier braucht es Platz auch für grundsätzliche Fragen, die nie wieder so grundsätzlich gestellt werden wie in dieser sensiblen Zeit: Was ist mir wichtig? Wie möchte ich sein? Wer bin ich überhaupt? Auf dem Boden einer guten Beziehung zur Lehrperson könnte es gelingen, durch die Scham auf den nötigen Abstand zu sich selbst zu kommen, um sich als Person zu erkennen, die Selbstfürsorge und Mitgefühl verdient.

Auftritte trainieren

Die gute Nachricht: Die Bewältigung von Lampenfieber kann wirkungsvoll trainiert werden. Auftritte gehören zum Musizieren und Lernen dazu und sind deshalb systematisch zu planen. Der Auftrittskontext ist so zu gestalten, dass zunächst im Duo, Ensemble oder im Chor mit anderen Jugendlichen vor Publikum musiziert wird. Die Gruppe gibt mehr Sicherheit. Häufiges Messen und Vergleichen in der Peergroup sollten von der Lehrperson begrenzt werden, denn es geht ja darum, sein eigenes Spiel weiterzuentwickeln und nicht wie der Nachbar zu spielen. Kleine Kurzvorträge zum Thema oder Singen mit dem Publikum lockern die Gesamtaufführung auf und entlasten die Jugendlichen. Der Auftrittsraum – Position, Blickfeld, Nähe und Distanz zum Publikum – sollte mit ihnen gemeinsam analysiert und gestaltet werden.
Hinsichtlich der musikalischen Aufgaben sind solche Musikstücke auszuwählen, die die Jugendlichen gut bewältigen können, aber nicht unterfordern. Sie müssen sich angemessen auf die Performance vorbereiten und neue Anforderungen sind reizvoll. Doch sollte der Musiklehrende mögliche individuelle Risiken und Fehlerwahrscheinlichkeit vorab gut einschätzen – auf keinen Fall sollte ein Auftritt den Jugend­lichen beschämen! Schließlich sind spieltechnische Hürden in der Vorbereitung gezielt zu bearbeiten – dadurch entwickeln junge Menschen bereits vorab Sicherheit in der Performance.
Vor dem Auftritt können Atem- und Entspannungsübungen oder Yogaeinheiten helfen. Mit Kindern ist es noch schwierig, aber mit Pubertierenden kann man beginnen, an der Wiedererlangung der Macht über das eigene Atemgeschehen zu arbeiten. Dabei erfahren sie: Wer seinen Atem steuern kann, lernt auch seine Angst zu beherrschen. So erleben sie sich selbstwirksam und souverän, weil sie die Steuerung im Ausnahmezustand der Angst über ihren Atem zurückgewinnen. Diese Erkenntnis nutzt heute jede Methode im Umgang mit Lampenfieber.
Gezielte Kommunikation über Lampenfieber und Bewältigungsstrategien mit dem Jugendlichen sind das A und O jeder Auftrittsvorbereitung. Schließlich sind Eltern, Familie, Peers zur Unterstützung zu engagieren. Allzu eifrige Familienangehörige mit übersteigerten Erwartungen sollten aber rechtzeitig im individuellen Gespräch gebremst werden. Nicht zuletzt gilt es, den erfolgten Auftritt im Ensemble oder im individuellen Gespräch zu reflektieren. Hier bewährt sich, die Ju­gend­lichen selbst zuerst nach ihren positiven Eindrücken zu befragen und erst im zweiten Schritt die verbesserungswürdigen Aspekte ihrer Aufführung anzusprechen.
Ein echtes „No-Go“ vor musikalischen Auftritten ist der Einsatz von beruhigenden Medikamenten, denn sie verursachen nicht nur gesundheitliche Schäden, sondern verhindern gerade die wichtige musikalische Erfahrung „Ich schaffe das“. Lampenfieber in Auftrittssituationen wird nur durch neue Auftritte bewältigt! Je häufiger und gezielter, desto besser. Dann entwickeln auch selbstunsichere Jugendliche Routine und Spaß an musikalischen Auftritten. Der Stolz über das Geleistete ist der Lohn. Lampenfieber begrenzt sich auf diese Weise auf ein förderliches Maß. Und Fehler in Konzerten und Aufführungen sind sowieso kein Hals- oder Beinbruch – sondern immer Chancen zum Lernen.

Weiterführende Literatur:
– ARTE (Hg.): „Wer nicht fragt, stirbt dumm! Warum sind Jugendliche so lasch?“, 2015, verfügbar bis 20.9.2020, www.arte.tv/de/videos/055155-022-A/wer-nicht-fragt-stirbt-dumm (Stand: 2.9.2018)
– Faix, Wilhelm: „Teenager – Umbruch, Krisen und Suche nach Sinn“, online unter: www.familienhandbuch.de/ babys-kinder/entwicklung/jugendliche/pubertaet/TeenagerUmbruchKrisen.php, erstellt am 17. September 2004, zuletzt geändert am 15. Juli 2013 (Stand: 2.9.2018)
– Kirn, Julia: Klassische Musik in den Lebenswelten ­Jugendlicher und junger Erwach­sener, Allitera Verlag, München 2016
– Pank, Benjamin: „Klassik und Jugend – passt das zusammen? Faszination Musik: Amadeus Templeton und Boris Matchin als Gründer von TONALi im Interview“, online unter www.life-und-style.info/life/faszination-musik/klassik-und-jugend-passt-das-zusammen, erstellt 03-2015 (Stand: 2.9.2018)
– Silbereisen, Rainer K./Weichold, Karina: „Jugend (12-19 Jahre)“, in: Wolfgang Schneider/Ulman Lindenberger (Hg.): Entwicklungspsychologie, Beltz, Weinheim 72012, S. 235-258
– Spahn, Claudia: „Auftritt und Lampenfieber – Kompetenzerwerb durch musikalische Bildung im Kindes- und Jugendalter“, in: Günther Bernatzky/Gunter Kreutz (Hg.): Musik und Medizin. Chancen für Therapie, Prävention und Bildung, Springer, Wien 2015, S. 395-406
– Tarr, Irmtraud: Lampenfieber. Stark sein unter Stress, Herder, Freiburg 2009
– WDR (Hg.): „Die Pubertät ist eine intensive Zeit“, 2017, verfügbar bis 3.2.2022, www.ardmediathek.de/tv/Planet-Wissen/Die-Pubert%C3%A4t-ist-eine-intensive-Zeit/WDR-Fernsehen/Video?bcastId=12994052&documentId=39536648 (Stand: 2.9.2018)

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 6/2018.