© Ulrike Wohlwender

Wohlwender, Ulrike

Versungen und vertan rund um c’

10 x „Sur le pont d’Avignon“ unter der musikalischen und pianistischen Lupe

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 6/2018 , Seite 26

Seit den 1950er Jahren folgen viele Klavierschulen dem Prinzip von Thompson und Schaum,1 einstimmige Liedmelodien rund um c’ zu notieren und auf zwei Hände zu verteilen. Sechs Anfänge von „Sur le pont d’Avignon“ zeigen, wie heikel dies ist. Vier Sätze in G-Dur machen deutlich, dass einfacher zugleich ergiebiger sein kann.2

Das beliebte französische Volkslied Sur le pont d’Avignon, eigentlich eine leicht fass­bare und beschwingte Melodie, kann sich in C-Dur der Fragmentierung kaum erwehren. In etlichen Klavierschulen ist eine Satz- und Notationsweise wie in Piano Kids3 anzutreffen:

Bis T. 3 ist der Satz soweit in Ordnung: Unter der Melodie zwei Begleittöne, auch wenn die Spielweise sehr eingeengt ist. Kritisch wird es in T. 4: Dadurch, dass die Melodie hier auf zwei Hände verteilt ist, zersplittert das Pattern. Es ist kaum zu erkennen, dass das Pattern von T. 4 identisch mit T. 3 und einfach nur verschoben ist. Die linke Hand spielt mal Begleit-, mal Melodietöne. Was ist hier anderes zu erwarten als stockendes Spiel mit ungewollten Akzenten?
Das Beispiel zeigt zudem, dass musikalisch unsinnige Pausenzeichen wie in T. 4 bei zersplitterten Patterns unvermeidbar sind. Nur die Hände pausieren, nicht die Melodielinie. Die hinzugefügte Erklärung – „Pausen verwendet man in der Musik für Ruhezeiten in Melodie oder Begleitung“4 – führt eine solche Notation einmal mehr ad absurdum. Hinzu kommt, dass Kinder im Grundschulalter in T. 4 unweigerlich in die Bruststimmfalle5 geführt werden.
In C-Dur und damit im Violin- und Bassschlüssel rund um c’ sind die Konflikte nicht lösbar.

1 John Thompson: John Thompson’s Easiest Piano Course, Part 1, London 1955; John W. Schaum: Wir musizieren am Klavier, Heft 1, Milwaukee 1962.
2 Der vorliegende Artikel basiert auf dem Abschnitt ­„Exkurs ,Sur le pont d’Avignon‘“ in: Ulrike Wohlwender: „Von Anfang an Musik? Klavierschulen unter der Lupe“, in: EPTA (Hg.): Mit Hand und Fuß. Zum Berufsalltag des Klavierpädagogen, Dokumentation 2016/17, Düsseldorf 2018, S. 110-133.
3 Hans-Günter Heumann: Piano Kids, Band 1, Mainz 1995, erweiterte Neuauflage 2014, S. 38; ähnlich z. B. in Fritz Emonts: Europäische Klavierschule, Band 1, Mainz 1992, S. 41 (zweite von drei Versionen).
4 Heumann, Piano Kids, S. 38.

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