Roslawez, Nikolaj A.

Violinstücke

für Violine und Klavier, Band 1 und 2

Rubrik: Noten
Verlag/Label: Schott, Mainz 2012
erschienen in: üben & musizieren 1/2013 , Seite 60

Nikolaj A. Roslawez war als junger Mann ein Anhänger der russischen Revolution. Doch schon 1920 trat er aus der kommunistischen Partei aus. Fern von Moskau in Charkow und Taschkent wirkte er als Violinvirtuose, Musikpädagoge, Dirigent und Komponist, wurde in der Stalin-Zeit mit Berufsverbot belegt. Nach seinem Tod beschlagnahmte die Geheimpolizei Teile seines Werks. Er war ein verfemter Komponist, der erst durch die Bemühungen seiner Nichte Jefrossinja Fjodorowna Roslawez, der Herausgeberin Marina Lobanova und des Musikwissenschaftlers Detlev Go­jowy im Westen bekannt wurde.
Heute können seine Werke – ­unter anderem Violinkonzerte, Kammermusik, Symphonien – in einzelnen Aufnahmen auf CD gehört werden, im Konzertsaal dagegen erklingt seine Musik eher selten. Umso höher ist das Engagement des Schott-Verlags einzuschätzen, dass er Roslawez’ Werke ediert und so der Musik machenden Öffentlichkeit zur Verfügung stellt.
Zum Kennenlernen, zum Studium für fortgeschrittene SchülerInnen, zur Bereicherung von Violinrezitals mit neuer und faszinierender Musik sind die in zwei Bänden erschienenen Violinstücke bestens geeignet. Der erste Band enthält kürzere Stücke, die sich für fortgeschrittene SchülerInnen als Vortragsstücke eigenen und die reifen Geigern Gelegenheit geben, mit emotional eindringlicher Musik das Pub­likum zu erwärmen.
Die „Morgenstimmung“ ist ein eindrucksvolles Stück Klangmalerei. Die „Romance“, „Sérènade“, „Élégie“ und „Reverie“ betonen das Gesangliche in der Violinstimme, die „Gavotte“ bogen- und grifftechnische Virtuosität. Gewiss, diese Kompositionen haben den Charakter von Salonmusik à la Kreisler, sind als wirkungsvolle Violindelikatessen servierbar, aber sie zeigen auch ein Komponieren, das scheinbar unbedeutende Formen mit höchster Ausdrucksintensität an­reichert.
Im zweiten Band sind die ab 1909 entstandenen Werke enthalten, die Roslawez’ Weg zu einer neuen Kompositionstechnik zeigen, welche die bisherige Tonalität durch ein neues Klangsystem, die von ihm genannten „Synthetakkorde“, ersetzt. Diese „Synthetakkorde“ enthalten alle harmonischen und melodischen Bezüge eines Werks. Ros­lawez entwickelte dabei Alexander Skrjabins „mystische Akkorde“ weiter.
Die Kompositionen dieses Bandes sind Gedichte ohne Worte, von Roslawez „Poèmes“ genannt, ganz in der Nachfolge von Skrjabin. Es geht ihnen um exzessiven Ausdruck, russische Melancholie, intensiviert durch eine expressionistische Haltung. Sie sind reich an Chromatik. Klangfarben, Klangeintrübungen und -verschiebungen erweitern das Ausdrucksspektrum. Insbesondere in der „Romanze“ und in der ekstatischen „Arabesque“ werden große Virtuosität, höchste Intensität und Klangschattierungskunst gefordert. Die sorgfältige, gut lesbare Edition von Marina Lobanova erschließt einen interessanten Komponisten des 20. Jahrhunderts.
Franzpeter Messmer