Slobin, Mark

Volksmusik der ganzen Welt

Rubrik: Bücher
Verlag/Label: Reclam, Stuttgart 2016
erschienen in: üben & musizieren 6/2016 , Seite 51

Der Titel muss provozieren: Wie sollte es zu bewerkstelligen sein, der Volksmusik der ganzen Welt auf gerade 140 Seiten Text gerecht zu werden? Gerade diese schwierige Frage löst Slobin auf sehr interessante wie kluge Art und Weise. Wer erwartet, nach der Lektüre über alle Phänomene der Volksmusik weltweit unterrichtet zu sein, der wird enttäuscht sein. Einträge zu einzelnen Regionen fehlen komplett (z. B. Madagaskar). Aber dies würde selbst einem sehr viel längeren Werk nicht ­gelingen.
Slobin arbeitet vielmehr mit exemplarischen Analysen von Volksmusik aus der ganzen Welt, ob sie nun aus (Ex-)Jugoslawien, aus Südafrika oder Afghanistan stammen. Was von Beginn an be­sticht, ist die sehr klare kulturwissenschaftliche Zuordnung sei­ner Beispiele, wodurch das schmale Werk seinen Titel auf überraschende Weise einlöst. Denn der Autor, obwohl er ausdrücklich eine Definition von „Volksmusik“ abweist, unternimmt einen kulturanalytischen Streifzug durch seine Wissenschaft, der ebenso unbeschwert wie tiefgründig daherkommt. Zwar finden sich im Buch zahl­lose implizite Definitionen von Volksmusik, die theoretisch genauer zu reflektieren wären; was er aber mit Recht von sich weist, ist eine Begriffshülse, die für alle Phänomene Geltung beanspruchen könnte.
Allen Gläubigen, die in der Volks­musik eine traditionelle Musik sehen, erweist Slobin schon auf den ersten Seiten eine recht radikale Absage mit einem Zitat von James Clifford, bei Volksmusik nicht an „Wurzeln, sondern an Wege“ zu denken. Diese Wege dokumentieren sich auch in den Beispielen Slobins, die er klug den aktuellen gesellschaftlichen Gegebenheiten anpasst. Von Migrationen ist hier die Rede, die thematisch in einem Vergleich dreier ganz unterschied­licher Volkslieder aus Afghanistan, dem jiddischen Repertoire und dem Angelsächsischen entnommen werden. Damit passt sich der Autor womöglich auch einer gesellschaftlichen Situa­tion an, die ihren Reiz aus dem ungenauen dunklen Ort der Herkunft ­gewinnt und im multikulturellen Schmelztiegel der Gegenwart ihre Erfüllung findet.
Mag dies ein blinder Fleck seiner Betrachtung sein, so erstaunt doch der kritische Blick, der die eigene Wissenschaft in ihren unterschiedlichen Strömungen unter die Lupe nimmt. Dabei besticht wiederum die Vielseitigkeit der Perspektiven, wenn er die sozialistischen „bürokratischen“ Regime untersucht, die der Volkskultur unter die Arme greifen, um sie der Ideologie anzupassen, aber ebenso die US-amerikanischen Bestrebungen der Folk-Music-Vereine kritisch betrachtet, wie sie einen inadäquaten Anspruch nationaler Identität erheben, um einheitliche kulturelle Räume zu stiften.
So dient das Werk gleichsam als Wegweiser in die unendlich vielfältigen Phänomene faszinierender Musik und ihrer Geschichte(n), stellt aber auch eine scharf­sichtige Einführung in die Musikethnologie bereit und formuliert eine klare Problemstellung.
Steffen A. Schmidt