Bernhard Gauss, Brigitte

Von Anfang an ­musizieren

Klavier-Anfangsunterricht nach Gehör und nach Noten

Rubrik: Praxis
erschienen in: üben & musizieren 5/2015 , Seite 32

“In der klaviertechnischen Erziehung von Anfängern sind bekanntlich die ersten Wochen die schwersten”, schreibt Margit Varró in ihrem Buch “Der lebendige Klavierunterricht”. Analog zu der in der Entwicklungs­psychologie formulierten Bedeutung der ersten Lebensjahre für die psychi­sche Gesundheit eines Menschen sind nicht nur die ersten Wochen, sondern die ganze frühe Unterstufe am Kla­vier von großer Wichtigkeit. Noch weiter gefasst geht es um die Erarbei­tung einer möglichst vielseitig ­entwickelbaren Grundlage der pianistischen und musikalischen Fähig­keiten.

„Was wünschst du dir auf dem Klavier spielen zu können?“ Diese Frage stelle ich in einer der ersten Stunden meinen neuen SchülerInnen. Fast alle, die nicht Für Elise nennen, antworten: „Ich möchte auf dem Klavier schöne Lieder [für viele gleichbedeutend mit schöne Stücke] spielen können.“ Für mich als Lehrerin heißt das nichts anderes, als dass es der Wunsch der Kinder ist, sich von Anfang an als Musizierende zu erleben. Und wie recht haben sie damit!

Spiel nach Gehör

Muttersprachliches Lernen
Um dieses Ziel zu erreichen, muss es mir als Lehrerin von Anfang an gelingen, Aufgaben zu stellen, welche die Formung der Hand, die Entwicklung pianistischer Bewegungen, den damit verbundenen Klang und die Lust am Darstellen in Tönen verbinden. Je jünger die AnfängerInnen sind, desto wichtiger ist die Einheit von Technik und lebendigem Musizieren. Das ist nur möglich, wenn der Anfangsunterricht zu einem großen Teil ein Lernen über das Gehör ist. Die mich leitende Ana­logie ist das muttersprachliche Lernen. Die Berliner Lehrerin für Improvisation, Lilli Friedemann, schreibt: „Jedes Kind lernt zuerst sprechen, dann lesen und schreiben. Warum nur glaubt man, in der Musik lesen lernen zu müssen, bevor man sich musikalisch äußern kann.“2
Das Spiel nach Noten ist auf dem Klavier aufgrund des großen Tonumfangs und der Mehrstimmigkeit sehr schwierig. Anfangsunterricht nach Noten engt die Entwicklung motorischer Fertigkeiten und vor allem auch den klanglichen Erfahrungshorizont stark ein und bewegt sich oft zwischen kognitiver Überforderung im Umsetzen abstrakter Zeichen und motorisch-klanglicher Unterforderung im Spiel immer gleich klingender Fünfton-Räume. Je jünger die SchülerInnen sind, desto eher haben sie Lust, ja ist es die ihnen angemessene Art, über Hören und Bewegen zu lernen. Vorwiegend damit haben sie nämlich ihre vorschulischen Lebensjahre verbracht. Gerade die Entwicklung von Motorik ist für Kinder eine große Quelle von Lust.
Das Spiel nach Gehör soll also nicht eine möglichst schnell hinter sich zu bringende Angelegenheit der ersten paar Unterrichtswochen sein, sondern lange Zeit oder immer wieder neben dem Umgang mit Noten eine gepflegte und kultivierte Lehr-Lernmethode im Sinne einer umfassenden Gehörbildung sein, die sowohl die Tondauer, Tonhöhe als auch klangliche Nuancen umfasst.
So bin ich im Laufe der Entwicklung meines Unterrichtens dazu übergegangen, nicht nur Lieder, sondern auch einfachere Klavierliteratur den SchülerInnen übers Gehör beizubringen. Charakteristisch für das Lernen übers Gehör ist, dass dabei nicht nur Tonlänge und -höhe wahrgenommen werden, sondern unabdingbar damit verbunden auch Tempo, Dynamik, Artikulation, Phrasierung und agogische Feinheiten. Das sind alles für musika­lische Interpretation relevante Parameter. Oder um im Vergleich mit dem Spracherwerb zu bleiben: der ganze Tonfall. Die Schülerinnen sind herausgefordert, alle Nuancen des Vortrags wahrzunehmen, und lernen so in einem das Spielen eines Stücks und das sich im Spiel ausdrückende Verstehen des Stücks.

1 Margit Varró: Der lebendige Klavierunterricht, seine Methodik und Psychologie, Hamburg 1958, S. 110.
2 Lilli Friedemann, zit. nach: Matthias Schwabe: Schluckauf oder wie die Heuschrecke Klavierspielen lernte, Kassel 1992, S. 41.

Lesen Sie weiter in Ausgabe 5/2015.