Landmann, Peter
Von kultureller Bildung zur Teilhabe
Kulturpolitische Grundlagen des JeKi-Projekts
Ergänzend zum Thema „JeKi und die Folgen“ in der vergangenen Ausgabe erläutert Peter Landmann, Abteilungsleiter im NRW-Kulturministerium, welche Herausforderung es bedeutet, jedem Kind kulturelle Teilhabe zu ermöglichen.
Seit Beginn der 2000er Jahre ist in allen Bereichen der Kultur und der Kulturförderpolitik ein Bewusstseinswandel deutlich wahrnehmbar: Kulturelle Bildung wird zu einem zentralen Thema. Wohlgemerkt: Diese Bewusstseinsveränderung findet weniger in der Bildungspolitik, auch kaum in der Schulpolitik, sondern im Wesentlichen in der Kulturpolitik statt. In der gesellschaftlichen Realität zeigt sie sich dementsprechend in einer starken Zunahme von Vermittlungsaktivitäten der Kultureinrichtungen im Lande.
Was sind die Ursachen für diese Entwicklung? Das hat sicher zuerst mit den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen zu tun, die unter anderem durch die Globalisierung und Digitalisierung verursacht werden. Sie stellen die herkömmlichen Kultureinrichtungen mit ihrem seiner Natur nach „analogen“ Angebot vor die große Herausforderung, ihre Funktion, ihren Stellenwert in unserer Gesellschaft neu zu definieren und zu sichern.
Wir „Kulturmenschen“ glauben ja daran, dass das Live-Erlebnis von Kunst und selbst künstlerisch kreativ zu sein zur Natur, zum Wesen des Menschen und der Gesellschaft gehören, im Kern also zeitlos sind. Wenn wir also die Gefahr sehen, dass allmählich immer weniger junge Menschen Zugang dazu finden, wenn das kulturelle Leben im Konkurrenzkampf um Zeit und Energie der nachwachsenden Generation an Bedeutung zu verlieren droht, so schließen wir daraus nicht, dass unser Angebot nicht mehr zeitgemäß ist. Vielmehr sehen wir es als unsere Aufgabe an, über neue Formen der Präsentation und der Vermittlung nachzudenken, um die Menschen zu gewinnen. Letzteres bedeutet vor allem, mehr kulturelle Bildungsangebote zu machen und Schwellen, die der Teilhabe am kulturellen Leben entgegenstehen, abzubauen.
Vermittlung kultureller Bildung
Die Vermittlung kultureller Bildung gehört hierzulande zu den angestammten Aufgaben der Schulen, denn es ist unbestritten, dass künstlerische Kreativität ein wesentlicher Faktor der Persönlichkeitsentwicklung ist. So ist unter den Kulturanhängern die Auffassung weit verbreitet, dass es – gerade in heutiger Zeit – die Schulen sein sollten, die mit vermehrten Aktivitäten im Bereich der künstlerischen Kreativität einer Unterbelichtung dieser Seite der Persönlichkeitsentwicklung entgegenwirken. Doch ist im PISA-Zeitalter der einseitigen Betonung der „MINT-Fächer“ und angesichts einer kaum noch überschaubaren Zahl von Interessen und Themen, die um die (Unterrichts-)Zeit und die Energie der Schulen bzw. der Schülerinnen und Schüler miteinander konkurrieren, eine Offensive der Schule im Sinne kultureller Bildung nicht festzustellen – und wohl auch nicht zu erwarten. Im Gegenteil, gerade im Bereich des Musikunterrichts wird an vielen Schulen von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe II eine mangelnde Anzahl von fachlich ausgebildeten Lehrkräften, ein hoher Unterrichtsausfall und insgesamt eine geringe Wertschätzung des Fachs beklagt.
Inwieweit diese Klage berechtigt ist, lassen wir dahingestellt – sicher ist, dass eine Ausweitung der künstlerischen Fächer auf den Stundentafeln der Schulen nicht realistisch ist. Es besteht bezüglich der kulturellen Bildung anscheinend ein erhebliches Interesse-Gefälle zwischen der Schulpolitik einerseits und der Kulturpolitik andererseits: Während das Thema für die Schulen nur eines unter vielen ist, ist es für die Kulturpolitik von zentraler, existenzieller Bedeutung. Auf Seiten der Kulturpolitik schließt das auch die Bereitschaft zu einem erheblichen finanziellen Engagement ein.
Dies hat zunächst zur Folge, dass die Kultureinrichtungen ihrem Publikum, insbesondere ihrem jugendlichen Publikum und damit auch den Schulen, heute ein wesentlich größeres und attraktiveres Angebot machen, als das noch vor zehn Jahren der Fall war. Das betrifft sowohl das allgemeine Programm als auch spezielle Vermittlungs- und Mitmachangebote. Doch stoßen die Kulturschaffenden mit diesen Aktivitäten im eigenen Haus immer wieder an Grenzen, die doch wieder die Schule in den Blick rücken. Sie ist der eine Ort, an dem tatsächlich alle Kinder und Jugendlichen erreichbar sind.
Das ist nicht nur quantitativ interessant. Es ist kulturpolitisch vor allem von eminenter qualitativer Bedeutung, wenn man kulturelle Bildung wesentlich als eine Frage der Teilhabe sieht – der gesellschaftlichen Teilhabe ganz allgemein und der Teilhabe an Kunst und Kultur im Besonderen. In der Schule erreicht man eben gerade auch jene Kinder und Jugendlichen, die von Hause aus den Zugang zu künstlerischer Aktivität in der Regel nicht finden würden. Dazu kommt, dass die Schule mit der Entwicklung hin zur Ganztagsschule seit ein paar Jahren dabei ist, ihre faktischen Gestaltungsmöglichkeiten über die Erfüllung des verbindlichen Fächer-Konsens hinaus zu erweitern und sich noch stärker als bisher für Kooperationen mit der sie umgebenden Außenwelt zu öffnen. Diese Entwicklung macht all den Einrichtungen zu schaffen, die sich mit ihren Angeboten an Schülerinnen und Schüler wenden – von den Sportvereinen bis zu den Musikschulen. Sie sehen sich zunehmend gezwungen, ihre Arbeit inhaltlich und organisatorisch wenigstens teilweise auf eine Kooperation mit Schule in der Schule umzustellen.
Idee von großer Faszinationskraft
So ist es sicher kein Zufall, dass die Idee zu „Jedem Kind ein Instrument“ in einer Musikschule als eine besondere Form der Kooperation mit und in den Grundschulen entstanden ist. Ebenso wenig ist es angesichts der eingangs geschilderten kulturpolitischen Ausgangssituation erstaunlich, dass diese Idee von großer Faszinationskraft für eine stark auf die kulturelle Bildung ausgerichtete Kulturpolitik war, wie sie sowohl von der Bundeskulturstiftung wie vom Kulturministerium NRW betrieben wurde und wird.
Eine verstärkte Zusammenarbeit von Musikschulen und Schulen in der Schule hat sich in den vergangenen Jahren ohnehin vielerorts entwickelt. JeKi geht aber einen, kulturpolitisch und gesellschaftspolitisch betrachtet, entscheidenden Schritt weiter, indem es sich tatsächlich an die ganze Grundschule, also an alle Kinder wendet und – im ersten Jahr – zum unmittelbaren Bestandteil des regelmäßigen Schulunterrichts wird (Tandem-Unterricht von Grundschul- und Musikschullehrkraft). Das bedeutet gegenüber allen anderen Projekten der Zusammenarbeit von Kultur und Schule einen regelrechten Quantensprung – übrigens auch, was die Form und notwendige Intensität der Zusammenarbeit zwischen dem Schulministerium und dem Kulturministerium angeht. Es hat außerdem gravierende Konsequenzen die Kosten betreffend, weil diese Integration in den regulären Unterricht bedeutet, dass im ersten Schuljahr keine Gebühren genommen werden können.
So aber bedeutet „Jedem Kind ein Instrument“ tatsächlich den Schritt von einem Projekt der kulturellen Bildung unter sehr, sehr vielen hin zu einem Projekt umfassender kultureller Teilhabe. Tatsächlich jedes Kind bekommt die reale Chance, für sich ein Instrument und das Musikmachen als Ausdrucksform zu entdecken. Der plakative und als „Marke“ sehr gut funktionierende Name hat übrigens immer wieder zu der Vorstellung geführt, dass tatsächlich jedes Kind vier Jahre an JeKi teilnehmen und am Ende ein Instrument spielen können müsse. Alles, was dahinter zurückbleibe, sei ein Stück Misserfolg des Projekts.
Selbst die glühendsten Verfechter des persönlichkeitsentwickelnden Wertes des Musikmachens würden aber eine 100-Prozent-Quote gar nicht anstreben wollen. Auch für das reale JeKi-Projekt im Ruhrgebiet war immer klar, dass es sich um ein bloßes Angebot handelt, das anzunehmen auf gleich drei Ebenen freiwillig ist und auch unbedingt freiwillig sein muss: Erstens entscheiden die Kommunen frei, ob sie dabei sein wollen, zweitens entscheidet jede einzelne Grundschule, ob sie JeKi-Schule sein will und von den äußeren (z. B. räumlichen) Voraussetzungen her sein kann. Drittens und vor allem: Jedes einzelne Kind entscheidet ab dem zweiten JeKi-Jahr jedes Schuljahr neu, ob es (weiter) mitmachen will!
JeKi als Chance, das Musikmachen für sich zu entdecken
Als JeKi im Ruhrgebiet startete, war in Ermangelung irgendwelcher Erfahrungswerte sehr schwer einschätzbar, wie hoch die Übergangsquoten bzw. Abbrecherquoten sein würden. Schon aus haushalterischen Gründen war es notwendig, die Quoten vorsichtshalber hoch zu schätzen, weil die Kosten umso höher sind, je mehr Kinder am Projekt aktiv teilnehmen. Die Teilnehmerzahlen sind jetzt im Ruhrgebiet deutlich niedriger, als das anfangs in den Konzepten und Finanzplänen stand. Natürlich liegt allen Beteiligten daran, in den JeKi-Grundschulen so viele Kinder wie möglich bis zum Ende des vierten Schuljahrs zu halten. In welchem Maße das auf Dauer gelingen wird, bleibt erst einmal abzuwarten, denn JeKi und die Menschen, die es aktiv betreiben, entwickeln sich ja auch und werden es im Laufe der Zeit immer besser machen, die Integration in das Schulleben wird immer besser gelingen usw.
Aber letztlich ist nicht entscheidend, ob es am Ende 70 Prozent oder nur 50 Prozent sind, die nach dem ersten Schuljahr in den aktiven Instrumentalunterricht wechseln, und ob es am Ende 30 Prozent oder 20 Prozent eines Jahrgangs sind, die tatsächlich alle vier Jahre durchlaufen. Entscheidend ist vielmehr, wie hoch unter denen, die dabei bleiben, der Anteil derer ist, denen wir mit JeKi eine Chance zur aktiven kulturellen Teilhabe eröffnet haben, die sie ohne das Projekt nicht gehabt hätten. Das ist sehr schwer zu messen – die wissenschaftliche Begleitforschung wird hoffentlich einige Erkenntnisse dazu bringen –, aber wenn JeKi die Zahl der aktiv musizierenden Kinder im Vergleich zu den herkömmlichen Instrumentalschülerzahlen der Musikschulen am Ende in etwa verdreifacht oder verdoppelt, dann besteht auch ohne Forschung schon auf den ersten Blick eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass darunter ein hoher Anteil von Kindern ist, die z. B. aufgrund ihres familiären Hintergrunds ohne JeKi kaum eine Chance gehabt hätten, das Musikmachen für sich zu entdecken.
Hierin liegt der kulturpolitische und gesellschaftspolitische Kern der Forderung: „Jedem Kind ein Instrument“! Diesem auf kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe gerichteten Anspruch gerecht zu werden, darin liegt die eigentliche Herausforderung des Projekts für alle an ihm verantwortlich Beteiligten.
Herausforderung für Musikschullehrkräfte
Das gilt ganz besonders für die Musikschullehrer und -lehrerinnen, die nicht nur mit neuen Formen des Gruppen-Instrumentalunterrichts, sondern mit einer bisher nicht gekannten Heterogenität der Zusammensetzung dieser Gruppen konfrontiert sind. Birgit Walter, die neue Leiterin der JeKi-Stiftung, hat das in ihrem Beitrag in der vergangenen Ausgabe eindrücklich geschildert und analysiert. Was das für das Berufsbild des Musikschullehrers, für die Definition der mit dem Instrumentalunterricht verbundenen Ziele, für die Didaktik des Instrumentalunterrichts, die notwendigen Unterrichtsmaterialien, die Gestaltung von Ensemblespiel etc. im Einzelnen bedeutet, war beim Start des Projekts niemandem vollständig klar.
Und doch war es richtig, es zu starten. Nicht nur deshalb, weil im Zusammenhang mit dem Kulturhauptstadtjahr Ruhr 2010 eine einmalige Chance zur Finanzierung und politischen Durchsetzung einer faszinierenden Idee bestand, sondern weil ein Projekt dieser Komplexität und Dimension anders als in Form eines „work in progress“ und eines „learning by doing“ gar nicht realisierbar gewesen wäre. Hätten wir versucht, die Szene der Fachleute im Lande in Seminaren, Symposien und Konferenzen ein alle genannten Facetten umfassendes, detailliertes Konzept ausarbeiten und in seinem „Für und Wider“ ausdiskutieren zu lassen, so gäbe es heute kein JeKi, weil man sich nicht hätte einigen können und weil das Projekt am Ende zerredet worden wäre, bevor es hätte starten können.
So war es der einzig gangbare Weg, bei dem konkreten Projekt der Bochumer Musikschule und deren guten praktischen Erfahrungen anzusetzen, ins kalte Wasser zu springen und von hier ausgehend eine schrittweise Entwicklung des ruhrgebietsweiten Projekts einzuleiten, auch wenn klar war, dass unterwegs zahlreiche Fragen und Probleme zu bewältigen sein würden und dass – auch berechtigte – Kritik unvermeidbar entstehen würde. Dahinter stand ein großes Vertrauen, in das Engagement und die Fachkompetenz der Musikschul- und der Grundschul-Lehrkräfte; ein Vertrauen auch in deren Bereitschaft, sich von einer großen bildungs- und kulturpolitischen Idee faszinieren zu lassen und sich dafür auf neue Herausforderungen einzustellen.
Dem Charakter der Pilotphase entsprechend befinden wir uns jetzt – planmäßig, das heißt nach dem ersten vollständigen Durchlauf eines JeKi-Jahrgangs – in einer Phase der Bestandsaufnahme, der Konsolidierung und der intensiven Diskussion, wie JeKi sich verändern und weiterentwickeln muss. Diese Veränderungen werden das Programm flexibler, inhaltlich freier und den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten besser anpassbar machen, und sie werden stärker unterstützen, dass das gemeinsame Musizieren (einschließlich Singen und Tanzen) zu einem integrierten Bestandteil des Schullebens einer jeden JeKi-Schule werden kann.
JeKi hat die Musikschulen des Ruhrgebiets und die Musiklandschaft insgesamt nicht unerheblich verändert, und das mag auch mancher skeptisch betrachten. Aber das Projekt hat den Musikschulen zweifellos auch neue Perspektiven eröffnet und ihre Stellung in den Städten gestärkt, was in der heutigen Zeit nicht gering zu schätzen ist.
Und die Grundschulen? Die Musik ist sicher diejenige unter den Künsten, die am besten geeignet ist, viele Kinder (und ihre LehrerInnen) zu gemeinsamem kreativen Tun und dementsprechenden gemeinsamen Erlebnissen zusammenzuführen. Nicht überall gelingt JeKi in gleichem Maße, das ist natürlich. Wir stehen noch am Anfang einer Entwicklung. Überall bleibt noch viel zu tun. Aber wer einmal eine engagiert geführte JeKi-Schule erlebt hat, der weiß: Die Mühe lohnt sich sehr!
Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 3/2012.