Lehmann, Charlotte
Von Schönberg bis Rihm
Eine Anleitung zum Studium des zeitgenössischen Liedes mit Hilfe der Musik-Kinästhesie
An der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts scheiden sich zum Teil immer noch die Geister; die oft diffizilen Kompositionsstrukturen erschließen sich bisweilen nicht gleich auf den ersten Blick und sind auch für professionelle MusikerInnen nicht immer leicht zu erarbeiten und konzertfähig zu interpretieren. Als Rezipient ist man jedoch in besonderem Maße auf die Fähigkeiten des Künstlers als Kommunikator zwischen Komponist und Publikum angewiesen. Umso dankbarer ist man als InterpretIn für jeden guten methodischen Ansatz, der einem diese wichtige Aufgabe erleichtert.
Im vorliegenden Band bündelt die renommierte Sängerin und Pädagogin Charlotte Lehmann gut erprobte und durchdachte methodische Herangehensweisen anhand zahlreicher, sorgfältig ausgewählter und aufbereiteter Beispiele, die sie auf der Basis der Musik-Kinästhesie erschließt. Sie hat dabei insbesondere junge SängerInnen und die sie begleitenden PädagogInnen im Blick, die hilfreiche Impulse zur Erarbeitung ihres zeitgenössischen Liedrepertoires erhalten werden.
Die ausgewählten Kompositionen sind qualitätvoll und stellen einen repräsentativen Querschnitt durch das Liedschaffen der neueren Zeit dar. Ob anhand von Liedern von Reimann, Holliger, Poulenc, Rihm und weiteren – stets fokussiert Lehmann behutsam und gekonnt genauestens die spezifischen Anforderungen und zeigt Schritt für Schritt auf, wie man sich dem jeweiligen Werk nähern sollte. Ihr Ansatz der Musik-Kinästhesie ist systematisch aufbereitet und wird zu Beginn des Bandes ausführlich erläutert. Er sollte auch genau erarbeitet werden, um im weiteren Verlauf als abrufbares Mittel zur Verfügung zu stehen.
Als ebenso grundsätzlich stellt Lehmann die Beherrschung der chromatischen Skala dar, wobei die hier verwendete Systematik der Halbtonschritte ein wenig irritierend wirkt. Die Prime als „eins“, kleine Sekunde als „zwo“ etc. zu benennen stellt für eine Sängerin einen vielleicht unnötigen Lernschritt dar, lernt man doch sonst zumeist in Bezug auf die Schritte Prime = 0. Der Vokal „o“ bei „zwo“ hat wiederum sängerisch Vorteile; aber dafür muss man immer wieder einen neuen gedanklichen Transfer leisten, der unter Umständen nicht nötig wäre.
Der Band ist klug durchdacht und klar gegliedert und besticht durch seine hohe Qualität, doch gibt es kleine Punkte, die bei einer Neuauflage berücksichtigt werden sollten: Der guten Ordnung halber freute man sich über Quellenangaben bei Originalzitaten, auch wären gelegentlich Querverweise zwischen den Kapiteln hilfreich. So wird das Intervallsingen früh geübt, später aber erst genau erläutert (z. B. sollte S. 17 einen Verweis auf S. 41 erhalten).
Insgesamt stellt dieser Band eine hervorragende Anleitung zur Erarbeitung zeitgenössischer Liedliteratur dar, der sowohl für PädagogInnen als auch für junge SängerInnen bald zum unverzichtbaren Hilfsmittel avancieren sollte.
Christina Humenberger