© Bernhard Marewski

Bossen, Anja

Vor dem Verstummen gerettet

Wie Solidarität, Mut und Kreativität sich lohnen können

Rubrik: musikschule )) DIREKT
erschienen in: üben & musizieren 6/2016 , musikschule )) DIREKT, Seite 06

Mit dem fortschreitenden Abbau „freiwilliger“ Leistungen – sprich: der Abwicklung von Bildungs- und Kultureinrichtungen – lassen sich mancherorts eben diese Einrichtungen gegeneinander ausspielen. Man duckt sich weg, erleichtert, nicht selbst betroffen, sondern zumindest in der aktuellen Sparrunde (noch) verschont geblieben zu sein – und vorübergehend kann aufgeatmet werden. Solidarität ist zwar schön, doch nicht unbedingt, wenn es ums eigene Überleben geht. Dass es auch anders gehen kann, zeigt in beeindruckender Weise das Beispiel der Musikschule Leverkusen. Unmittelbar davon bedroht, dass fast das gesamte Kollegium von festangestellten Lehrkräften durch Honorarkräfte ersetzt werden sollte, haben sich die Musikschullehrkräfte mit Unterstützung des Musikschulleiters mit anderen Kultureinrichtungen und der freien Kulturszene solidarisch vernetzt – und Erfolg gehabt!

Leverkusen, eine 160000-Einwohner-Stadt im Rhein-Ruhr-Gebiet, befindet sich aufgrund der verheerenden Haushaltslage seit 1992 im Haushaltskonsolidierungsprogramm. Doch gespart werden kann nur noch an den freiwilligen Leistungen, zu denen die Kultureinrichtungen der Stadt gehören. Trotz bereits zahlreicher Einsparmaßnahmen an der Musikschule in der Vergangenheit, veröffentlichte das Wirtschaftsprüfungsunternehmen KPMG im Februar 2016 einen Vorschlag zur Umsetzung weiterer Einsparungen im Bereich der Kultureinrichtungen, die im städtischen Eigenbetrieb zusammengefasst sind.
Dabei sah KPMG das hauptsächliche Ein­spar­potenzial vor allem an der Musikschule bei der Umwandlung von festen Stellen in Honorarbeschäftigungsverhältnisse: Betrug zu diesem Zeitpunkt das Verhältnis der von Festangestellten erteilten Unterrichtsstunden zu dem Anteil, der von Honorarkräften erteilt wurde, 80:20 (und entsprach damit den Richtlinien des Verbands deutscher Musikschulen), sollte dieses Verhältnis durch einen „sozialverträg­lichen“ Abbau genau umgekehrt werden. Als Einsparpotenzial wurde von KPMG die Summe von 376000 Euro bis zum Jahr 2021 angegeben. Über diese Maßnahme hinaus schlug KPMG vor, das Museum Morsbroich zu schließen und die Ateliermieten im sogenannten Künstlerbunker zu erhöhen. Eine Entscheidung darüber sollte vom Rat der Stadt am 27. Juni 2016 getroffen werden.

Solidarisierung und Protest

Der Verkündung der geplanten Einschnitte folgte eine öffentliche Grundsatzdiskussion über den Stellenwert von Kultur in unserer Gesellschaft. Die Umsetzung der Sparmaßnahmen hätte einen unglaublichen Einschnitt für die Lebensqualität in der Stadt bedeutet. 3000 Schülerinnen und Schüler, die an der Musikschule von 70 Lehrkräften unterrichtet werden, wären von massiven Einschränkungen betroffen gewesen – abgesehen von den mittlerweile auch der Öffentlichkeit und Politik bekannten sozialen und finanziellen Problemen, die Honorarkräfte an Musikschulen haben.
Auftakt für die Protestaktionen war eine außerordentliche Kulturkonferenz, zu der das Junge Theater Leverkusen Anfang März Vertreter anderer Kultureinrichtungen, der freien Szene und der Vereine sowie andere Interessierte einlud. Von April bis Juni wurde jeden Samstagvormittag konzertierte Aktionen gestartet, die ein gro­ßes Echo in der regionalen Presse fanden. Ein erster Höhepunkt des Protests war ein Kulturzug durch die Stadt mit 30 Bands und anderen Musikgruppen, die immer wieder anhielten und künstlerische Beiträge lieferten. Begleitet wurden sie von rund 1000 weiteren Kulturschaffenden, Bürgern und Politikern.
Ein weiterer Höhepunkt folgte in Gestalt einer Schuh-Installation auf dem Rathausplatz: 3000 Paar Schuhe, die die Musikschülerinnen und -schüler gesammelt hatten, symbolisierten die Zahl der Kinder und Jugendlichen, denen die Musikschule ein sinnvolles Bildungs- und Freizeitangebot macht. Ebenso spektakulär war das „stumme Orchester“ unter der Leitung von Martin Ehrhardt, der sich als neu gewählter Sprecher der Honorarlehrkräfte an der Musikschule zum Motor vieler Aktivitäten entwickelte. 45 Notenständer wurden vor dem Rathaus aufgebaut, für jedes Ensemb­le der Musikschule einer. Martin Ehrhardt dirigierte, doch es erklang kein einziger Ton: So also könnte die Zukunft der Musikschule aussehen.
Parallel zu den Protestaktionen wurden ei­ne Petition und eine Unterschriftenaktion zum Erhalt der Kulturinstitutionen initiiert, an denen sich mehrere tausend Personen beteiligten. Zugleich konnte Musikschulleiter Jürgen Ohrem in einer Stellungnahme zum KPMG-Gutachten überzeugend nachweisen, dass die Berechnungen von KPMG schlichtweg falsch waren. Da sich KPMG weigerte, die Rechenwege offen­zulegen, war jedoch nicht festzustellen, worin die Fehler konkret bestanden. Dafür stellte sich als unbeabsichtigter Neben­effekt des KPMG-Gutachtens heraus, dass die Honorare an der Musikschule seit zehn Jahren nicht mehr erhöht worden waren.

Erfolgreicher Kompromiss

Inzwischen hat der Rat der Stadt am 27. Juni 2016 entschieden – allerdings nur zur Musikschule. Die Entscheidung ist ein Riesenerfolg und erheblich der Solidarität und dem Engagement der Betroffenen zu verdanken: der Musikschullehrkräfte, der Künstler und Unterstützer anderer Einrichtungen und der freien Kulturszene, des Musikschulleiters, der sich vor seine Einrichtung und sein Kollegium gestellt hat, der Eltern und der engagierten Bevölkerung. Aber auch die seit vielen Jahren gut funktionierende starke Verankerung der Musikschule im städtischen Leben, die Sichtbarkeit in öffentlichen Konzerten, Ferienangeboten und anderen Veranstaltungen haben sicher maßgeblich mit zu diesem Erfolg beigetragen. Den politischen Entscheidungsträgern dürfte klar geworden sein, was alles weggefallen wäre, wenn das KPMG-Gutachten umgesetzt worden wäre.
Der Rat der Stadt ist den Empfehlungen von KPMG daher nicht gefolgt, da dies die bisherigen Strukturen vollkommen zerstört hätte. Man wollte offensichtlich auch nicht umsetzen, was auf einem der Demonstrationsplakate mahnend zu lesen war: „Musikschullehrer im Honorar, Lehrerwechsel jedes Jahr“. Als Kompromiss werden künftig 74 Prozent der Unterrichtsstunden von festangestellten Lehrkräften und 26 Prozent von Honorarkräften erteilt. Dies wird umgesetzt, indem zwei frei werdende TVöD-Stellen nicht neu besetzt werden. Die ursprünglich von KPMG anvisierte Quote von 30 Prozent Festangestellten zu 70 Prozent Honorarkräften ist damit vom Tisch.
Der Rat der Stadt Leverkusen hat (im Gegensatz zu vielen Parlamentariern an anderen Orten) offensichtlich verstanden, was eine Musikschule ausmacht: dass es sich dabei nicht um ein Unterrichtsvermittlungsinstitut handelt, sondern um eine Bildungseinrichtung, in der Lehrkräfte eine Arbeit von hoher Qualität leisten. Der Rat hat auch verstanden, in welchem Verhältnis die Einsparsumme zu dem steht, was an immateriellen Werten verloren gegangen wäre. Möglicherweise dämmert Politikern auf der kommunalen Ebene auch zunehmend, dass das Ende der Fahnenstange beim Sparen erreicht ist; denn was passiert eigentlich, wenn sämtliche freiwilligen Leis­tungen weggespart sind und nur noch Pflichtausgaben bleiben, für die die kommunalen Haushalte absehbar irgendwann ebenfalls nicht mehr ausreichen?

Der Widerstand geht weiter

Wenigstens bis 2022 verfügt die Musikschule nun über Planungssicherheit. Über das Museum Morsbroich und die Ateliermieten des Künstlerbunkers wurde allerdings noch nicht entschieden. Doch auch die grundsätzliche Schlechterstellung von Honorarkräften gegenüber Festangestellten an der Musikschule ist damit noch nicht gelöst. Die solidarischen Aktionen werden also in die nächste Runde gehen – und das sicher mit genauso viel Fantasie, Mut und Kreativität wie bisher. Eins zeigt sich am Beispiel Leverkusen ganz deutlich: Solidarität und Engagement können noch immer erfolgreich sein. Und es gilt noch immer der Satz, dass, wer nicht kämpft, schon verloren hat.