Bruns, Heilke

Wahrnehmen, Atmen, Eintauchen

Body-Mind Centering® als Gesundheitsprophylaxe im Instrumentalunterricht

Rubrik: Gesundheit
erschienen in: üben & musizieren 1/2020 , Seite 38

Seit 15 Jahre gebe ich Fortbildungen zum Thema Körperwahrnehmung und Gesundheitsprophylaxe für MusikerInnen. Aber wie sieht es im Unterrichts­alltag aus? Ist das ein Thema für die SchülerInnen? Ist die Beschäftigung mit dem eigenen Körper ab einem gewissen Alter nicht eher peinlich? Und wie soll man das noch einbauen in das sowieso schon volle Programm von Technik über Vom-Blatt-Spiel bis zum Literaturspiel?

Knochen sind lebendiges Gewebe

Immer wieder begegne ich SchülerInnen, die sich nicht gut aufrichten können. Sie sitzen dann in einer eher gebeugten Haltung, also mit Rundrücken, am Klavier. So war es beispielsweise bei Saskia,1 elf Jahre alt und seit etwa drei Jahren bei mir im Klavierunterricht. Während ich mit vielen meiner SchülerInnen die unterschiedlichsten Körperwahrnehmungsübungen machen kann, mochte Saskia sich darauf nicht einlassen. Wie soll ich, der eine gute Haltung doch so am Herzen liegt, mit dieser Schülerin umgehen? Insbesondere wenn ich weiß, was passiert, wenn Jugendliche ständig einen Rundrücken haben und der Kopf durch den heute so üblichen Blick auf das Smartphone meistens nach vorne gebeugt ist? Dadurch wird die Halswirbelsäule ständig belastet und der Nacken gebeugt. Die Aufrichtungsmuskulatur der Wirbelsäule wird nicht genutzt und die Faszien und Bänder an der Vorderseite der Hals- und Brustwirbelsäule verkürzen sich.
Aus Haltung wird irgendwann Form, denn Knochen sind lebendiges Gewebe. Ständig baut sich die Knochensubstanz auf und wie­der ab – ein Prozess, den man „Knochenumgestaltung“ nennt. Ernährung, Bewegung und Körperhaltung beeinflussen das Wachstum der Knochen. Da diese sich der Beanspruchung entsprechend bilden, formen sich bei einer gebeugten Brustwirbelsäule die Wirbelkörper dementsprechend. Wenn Jugendliche vorwiegend in dieser Haltung sitzen, formt sich ihre Hals- und Brustwirbelsäule mit der Zeit um. Deswegen ist es so wichtig, Bewegung und Körperwahrnehmung von Anfang an spielerisch in den Unterricht mit einzubauen.

Prävention ist nötiger denn je

In den vergangenen 35 Jahren wurde eine Vielzahl an Studien durchgeführt, die sich mit dem Gesundheitszustand von MusikerInnen befassen. Sie zeigen auf, dass MusikerInnen einer hohen physischen und psychischen Belastung ausgesetzt sind.2 Eine Studie mit jungen MusikerInnen aus acht befragten Jugendorchestern belegt, dass 51 Prozent der männlichen und 79 Prozent der weiblichen Teilnehmer und Teilnehmerinnen bereits Beschwerden in der Schulter haben. Über Beschwerden im Nacken berichten 61 Prozent der Männer, 74 Prozent der Frauen. Bei Beschwerden im Rücken sind es 63 Prozent der Männer und 79 Prozent der Frauen.3 Deshalb ist es sinnvoll und ratsam, dass eine Prävention so früh wie möglich stattfindet, indem SchülerInnen schon ab der ersten Unterrichtsstunde spielerisch an eine gute Haltung und einen gesunden Bewegungsablauf herangeführt werden.
Aber wie können in der sowieso schon kur­zen Unterrichtszeit auch noch Übungen für eine aufrechte Haltung eingebaut werden? Und wie kann das spielerisch geschehen und auch noch Spaß machen?

Vertiefung des ­Körperbewusstseins

Die Methode, auf deren Grundlage ich Kör­perwahrnehmung für MusikerInnen unterrichte, nennt sich Body-Mind Centering® (BMC). Es ist eine feine und vielschichtige Körperarbeit, die in den 1980er Jahren von der Bewegungsforscherin Bonnie Bainbridge Cohen in den USA entwickelt wurde. Im BMC arbeiten wir mit der Erforschung verschiedener Körpersysteme wie beispielsweise dem Knochen-, Muskel- oder Organsystem, aber auch mit dem Flüssigkeits- und dem Nervensystem. Das macht den Unterricht so vielseitig.4

 

Um die einzelnen Körperbereiche zu veranschaulichen, setzen BMC-LehrerInnen vielfältiges anatomisches Anschauungs­material ein. Es geht dabei nicht so sehr um das anatomische Wissen, sondern mehr um das bewusste Erfahren des eigenen Körpers in Bewegung, um das sogenannte „embodiment“. Durch meine BMC-Ausbildung habe ich gelernt, meinen Körper vielschichtiger wahrzunehmen, mich in mei­nem Körper zuhause zu fühlen und mich mit Leichtigkeit von innen aufzurichten. Diese Körpererfahrungen haben sich positiv auf mein Klavierspiel ausgewirkt, sodass ich z. B. keine Rücken- oder Schulterschmerzen mehr habe. Im Unterricht beobachtete ich, dass die SchülerInnen oder StudentInnen anders spielen, wenn sie auf ihre Körperhaltung achten. Der Anschlag, die Tonqualität und der musikalische Ausdruck verbessern sich deutlich.
Seit etwa 15 Jahren werden angehende Ins­trumental- und GesangspädagogInnen an deutschen Musikhochschulen in Prävention und Musikphysiologie ausgebildet. Eine Stu­die konnte nachweisen, dass die dadurch gewonnenen Fertigkeiten und Fähigkeiten eine direkte positive Auswirkung auf die Spielpraxis der SchülerInnen haben.5

Sitzbeinhöcker fühlen

Welche Übungen machen Sinn? Je nach Alter variiere ich die Übungen. Den Älteren zeige ich beispielsweise die Anatomie der Wirbelsäule. Ein klares inneres Bild von der Wirbelsäule ist hilfreich, um die eigene Wirbelsäule zu spüren und sich von innen her aufrichten zu können.
Eine Übung, die ich mit fast allen meinen SchülerInnen durchführe, ist das „Sitzbeinhöcker fühlen“. Je nach Alter zeige ich Bilder vom Becken und den beiden Sitzbeinhöckern. Anschließend lasse ich die SchülerInnen das Gewicht vom einen Sitzbeinhöcker zum anderen verlagern. Dadurch können sie diese ganz konkret im Kontakt mit dem Stuhl spüren und sich zwischen die beiden Sitzbeinhöcker setzen. Mit dieser gut verankerten Basis und dem Spüren nach innen lässt sich die eigene Wirbelsäule gut aufrichten. Dabei können sie sich vorstellen, wie sich die Wirbelkörper wie Bausteine übereinander aufbauen.

Praktische Übungen für die Jüngeren

An dieser Stelle möchte ich ein paar Körper­wahrnehmungs- und Bewegungsspiele nen­nen, die besonders auch für jüngere SchülerInnen geeignet sind:
– „Spaghetti-Arme“: Am Platz, im Stehen oder Gehen die Arme lockern mit der Vor­stellung, sie seien wie weiche Spaghetti.
– „Schlabberpuppe“: Die Lehrkraft bewegt den Arm des Schülers oder der Schülerin. Er oder sie versucht, den Arm dabei ganz entspannt und passiv zu lassen, wie eine Schlabberpuppe.
– „Kopfwackeln“: Im Sitzen oder Stehen mit dem Kopf wackeln, ihn ganz leicht bewegen.
– „Sitzbeinhöcker fühlen“: Das Gewicht vom einen Sitzbeinhöcker auf den anderen verlagern.
– „Beckenkreisen“: Mit dem Becken auf dem Stuhl kreisen.
– „Bewegliche Wirbelsäule“: Die Wirbelsäule beweglich wie eine Perlenkette in alle Richtungen bewegen.
– „Schulterblätter-Gleiten“: Die Schulterblätter über die Rippen gleiten lassen.
Sehr gerne setze ich auch Materialien ein wie Pezzibälle oder Tennisbälle. Materialien haben besonders für Kinder einen hohen Aufforderungscharakter. Ein Pezziball ist z. B. sinnvoll, um die Wirbelsäule in eine Streckung zu bringen. Die SchülerInnen legen sich mit dem Rücken über den Ball oder lassen das Becken noch mehr in Richtung Boden sinken und lehnen sich an den Ball an. So können sie ihr Gewicht an den Ball abgeben, was oft als sehr angenehm und entspannend empfunden wird. Die Wirbelsäule bewegt sich dabei in die andere Richtung, nämlich in die Öffnung und Streckung hinein, was ein guter Ausgleich zu der meist gebeugten Haltung beim Sitzen oder vor dem Smartphone ist.
Tennisbälle eignen sich sehr gut, um die Fußsohlen damit abzurollen. Das hat eine enorm aktivierende Wirkung auf die Plantarfaszie unter der Fußsohle. Diese Faszie hat über die Rückseite der Beine Verbindungen bis zum Hinterkopf. So kann durch das Abrollen des Fußes mit dem Tennisball die ganze Haltung beeinflusst und gestärkt werden.

Wie der Klang sich ändert, wenn sich Verspannungen lösen

Oft bemerke ich auch Verspannung im Kiefergelenk, im Schultergürtel und in den Armen. Während meiner Vertretungsprofessur für Körperwahrnehmung und Bewegung an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Frankfurt am Main habe ich festgestellt, dass Verspannungen im Nacken und Schulterbereich das größte Problem für SängerInnen und InstrumentalistInnen sind. Wohl auch aus diesem Grund wird besonders meine Fortbildung „Gelöste Schultern – starker Rücken“ sehr oft angefragt. Auch bei der Auflistung von gesundheitlichen Problemen bei MusikerInnen werden akute und chronische Prob­leme am Bewegungsapparat an erster Stelle benannt, besonders obere Extremitäten und Hand.6
So war es auch bei dem 18-jährigen Jonas. Nach einigen Jahren klassischen Unterrichts kam er zu mir, um mehr populäre Musik und Improvisation zu erlernen. Während einer Stunde spielte er ein Stück von Ludovico Einaudi, technisch einwandfrei und präzise, aber irgendwie fehlte es an Fluss und Musikalität. Beim Zuhören fiel mir auf, dass sein Kiefergelenk sehr verspannt war und er ziemlich viel Spannung im Schultergürtel und in den Armen hielt. Aber wie konnte ich das kommunizieren? Wie die richtige Sprache finden?
Zunächst lobte ich sein sicheres und präzises Spiel. Dann fragte ich ihn, was er noch verbessern könnte. Ich sagte ihm, dass das Stück noch schöner würde, wenn er die Atmung freier fließen lasse und mit mehr Leichtigkeit und Anstrengungslosigkeit spiele. Achtsam machten wir ein paar Lockerungsübungen für das Kiefergelenk. Es ist wichtig, dass das Kiefergelenk beim Spielen entspannt ist. So können die Atmung und der musikalische Ausdruck freier ihren Weg finden.
Für solche Körperwahrnehmungsübungen braucht man viel mehr Zeit, als in 30 Minuten Unterricht zur Verfügung steht, damit ein Loslassen auf einer tieferen Ebene möglich wird. Aber auch schon dieser kurze Moment der Lockerung und das Lenken der Aufmerksamkeit auf das Kiefergelenk machten bei Jonas eine Veränderung möglich. Er konnte wahrnehmen, wie verspannt sein Kiefergelenk war, und es dann beim Spielen ein wenig mehr loslassen. Um mehr Entspannung in seine Arme zu bekommen, bat ich ihn, seine Arme zu lockern und sie ein wenig wie „weichgekochte Spagetti“ zu bewegen. So konnten sich überflüssige Muskelspannungen auflösen. Dann sollte er seine Füße am Boden und die Sitzbeinhöcker im Kontakt mit der Klavierbank spüren. So hatte er eine Basis für die Aufrichtung seines Körpers.
Ich lud ihn ein, sich vorzustellen, wie die Arme von der Wirbelsäule und dem Brustkorb getragen werden. Mit diesem Körpergefühl legte er die Finger wieder auf die Tasten. Ich lenkte seine Aufmerksamkeit auf seine Atmung im Bauchraum und ließ ihn mit der Vorstellung spielen, als ob die Musik aus den Armen durch die Hände in die Tasten hineinfließen würde. Was ich jetzt zu hören bekam, berührte mich deutlich mehr als zuvor. Die Musik atmete, sie war im Fluss. Ich nahm wahr, wie Jonas viel mehr in seine Musik eintauchen konnte. „Spielen im Flow“, so nennt es Andreas Burzik.7

Vertrauen ist die Voraussetzung

Ein guter, auf Vertrauen basierender Kontakt ist Voraussetzung für solch eine Arbeit mit dem Körper. Bei der 11-jährigen Saskia mit dem Rundrücken musste ich
z. B. erst akzeptieren, dass sie diese Körperarbeit nicht machen wollte. Daraufhin ließ ich sie erstmal so sein, wie sie ist. Sie hatte ein großes Bedürfnis, mir von sich zu erzählen – von der Überforderung in der Schule und dass sie oft müde sei, weil sie nicht gut geschlafen habe. Sie hat ein sehr volles Wochenprogramm, was wohl auch durch die Eltern mit gesteuert ist.
Vor ein paar Wochen fiel mir die Haltung ihrer Beine und Füße auf, die ohne klare Ausrichtung und ohne Bodenkontakt waren. Saskia wollte schon wieder ausweichen, aber dieses Mal bestand ich darauf, dass sie ihre Füße einfach in einen klaren Kontakt mit dem Boden bringen sollte. Ich erklärte ihr, wie sich das auf das Becken und den Rücken auswirke. Dann erzählte sie mir plötzlich, dass alle aus ihrer Familie Rückenschmerzen haben, sie eingeschlossen. Dieses Gespräch und ihre persönliche Betroffenheit machten es möglich, dass ich ihr etwas über die Wirbelsäule und die Rückenmuskulatur erzählen und sie zum aufrechten Sitzen motivieren konnte. Interessanterweise war sie jetzt bereit, sich ein wenig mehr von innen her aufzurichten.

Resümee

Ich halte es für sehr wichtig, dass angehende MusikpädagogInnen bereits während ihrer Ausbildung in Methoden zur Körperwahrnehmung geschult werden. Dann können sie achtsam und vielseitig auf ihre SchülerInnen eingehen und ihnen ein beschwerdefreies und genussvolles Spielen auf dem Instrument vermitteln – hoffentlich ein Leben lang.

1 Um die Persönlichkeit zu schützen, wurden die Namen der SchülerInnen geändert.
2 Annegret Pefferkorn: Integration von Gesundheitsförderung und Prävention in die musikalische Ausbildung – am Beispiel der Landesjugend­orches­ter in Deutschland, Masterarbeit Hochschule für Musik und Theater Hamburg 2014, S. 1.
3 Walter Samsel/Helmut Möller/Rainer Müller: „Ergebnisse einer Befragung junger Musiker über Berufsperspektiven, Belastungen und Gesundheit“, in: Musikphysiologie und Musikermedizin, 3/2009, S. 93.
4 Im Film Glückliche Musiker, zu sehen unter www.uebenundmusizieren.de, stelle ich meine Arbeit mit MusikerInnen anschaulich dar.
5 Horst Hildebrand/Matthias Nübling: „Providing Further Training in Musico-Physiology to Instrumental Teachers: Do Their Professional and Pre-Professional Students Derive Any Benefit?“, in: Medical Problems of Performing Artists, 19, 2004, S. 237-246.
6 Pfefferkorn, S. 5.
7 Andreas Burzik: „,Mit Leib und Seele‘ üben – das Geheimnis der Meister. Eine ganzheitliche, kör­perorientierte Übemethode“, in: das Orchester 11/2003, S. 13-18.

Lesen Sie weitere Beiträge in Ausgabe 1/2020.