© DavisShared_peopleimages.com

Figdor, Helmuth

Warum habe ich Lampenfieber?

Ein psychoanalytischer Beitrag zum besseren Verständnis der ­eigenen Gefühle – Teil 2

Rubrik: Didaktik
erschienen in: üben & musizieren 4/2025 , Seite 50

In Ausgabe 1/2025 (Seite 12-16) habe ich gezeigt, dass Auftrittsängste, an denen Musiker leiden, obwohl sie ihr Instrument und das Stück beherrschen, wie eine Phobie funktionieren: Unbewusst stellen sich Gefühle ein, die offen­bar zu einer ganz anderen, als bedrohlich erlebten Situation gehören – ein ­unbewusster Vorgang, den die Psychoanalyse als „Über­tragung“ bezeichnet. In diesem zweiten Teil soll es um die Frage gehen, ob die Wahrscheinlichkeit, dass es zu solchen Übertragungen kommt, auch mit Erfahrungen zusammenhängen könnte, die im Zuge der musikalischen Ausbildung gemacht wurden.

Resonanz als zentrale Kategorie

Ich habe an anderer Stelle1 ausführlich zu zeigen versucht, dass das Musikerleben eine große Ähnlichkeit hat mit der Art und Weise, wie Babys sich in Beziehung zu einer förderlichen Umwelt erleben. Eine „hinreichend gute Mutter“2 deutet das Unbehagen, den Schmerz, die Not ihres Kindes als Hunger, Langeweile, Einsamkeit, Panik, Frieren usw. Wenn das, was sie daraufhin tut, das Baby von Unlustspannung befreit, kommt es sofort zur Ruhe. Scheinbar befriedigt die Mutter das entsprechende Bedürfnis, doch tatsächlich „weiß“ das Baby, dass es Hunger hatte, erst nachdem es saugen durfte. Die Mutter fungiert gewissermaßen als Spiegel für das, was das Baby in sich spürt. Der vorerst noch blinde Affekt erhält im passenden Angebot der Mutter einen Resonanzraum im Außen.
Genau dieses Resonanzerleben ist es aber auch, wenn uns Musik emotional berührt. Dann finden akute wie latente innere Erregungen im Außen ein im Augenblick passendes Äquivalent, in welchem sie bewusst erlebbar werden. Und zu einem großen Teil handelt es sich um Emotionen, die anders als musikalisch inzwischen weder erlebt noch ausgedrückt werden können, weil sie weit, bis in die fötale Existenz und die ersten Lebensmomente zurückreichen und längst von unserem begrifflichen Bewusstsein zugedeckt sind; weil ihr sprachlich konkreter Ausdruck gesellschaftlich tabuisiert ist oder mit Scham- und Schuldgefühlen behaftet wäre; weil sie zu schmerzlich sind, um in unserem Alltag Platz finden zu können (Angst, Krankheit, Tod, Trennung…); weil sie zu schönen oder schlechten Erlebnissen, Beziehungen gehören, die vergessen sind oder auch nicht erinnert werden sollen.
Finden die Affekte und Emotionen in einem Musikstück erlebbare Resonanz, verschwimmen Innen und Außen. Die reale Alltagswelt verliert für den Moment ihre Bedeutung, die Musik umfängt Hörer und Spieler wie einst die Mutter das Baby, wie der/die Geliebte den/die Geliebte(n). In dieser Umarmung kann ich weinen, jubeln, wachsen, schwach werden – Sorgen und Ängste hingegen bleiben im bedeutungslos gewordenen Alltag weggeschlossen. Die Musik wird auf einer archaischen Gefühlsebene zur guten, das heißt geliebten wie auch liebenden Mutter. In ihrem Schutz hat Angst keinen Platz mehr. Musiker kennen dieses Phänomen: Sie nennen es „Flow“. Sollten sie vor dem Auftritt noch nervös gewesen sein, ist die Nervosität wie weggeblasen, wenn sie zu spielen oder zu singen beginnen. Als ob die ersten Takte die Türe in eine andere Welt, zu einem anderen Selbst öffnen. Die Aussicht auf den Schutz und die Befriedigung, die dieser quasi mütterliche Raum verspricht, verändert auch den Tenor des Lampenfiebers: Der „Aufgeregtheit“, dem englischen „Exited“, eignet eine Mischung aus Angst und Freude – wie vor einem ersten Rendezvous oder einer großen Reise.3
Aber nicht nur Lampenfieber löst sich in diesem Resonanzraum auf. Mich beeindruckt und berührt stets, wenn ich sehe, zu welcher Leidenschaft gerade schüchterne, nervöse Kinder im Singen und Musizieren finden können. Als ginge von der Musik ein hypnotischer Befehl aus, alles an Zurückhaltung, Wohlgefälligkeit, Selbstzweifel und Angst zu vergessen.4

1 „Die Gefühle und das Musizieren: Musik als überlebendes Symbolsystem sensomotorischen Erlebens“, in: Figdor, Helmuth/Röbke, Peter: Das Musizieren und die Gefühle. Instrumentalpädagogik und Psychoanalyse im Dialog, Mainz 2008, S. 114-143.
2 Der Begriff „good enough mother“ stammt von Donald W. Winnicott (z. B. Winnicott, Donald W.: Vom Spiel zur Kreativität, Stuttgart 21979).
3 Zu den verschiedenen strukturellen Eigenschaften von Musik, die zu jener Kompatibilität mit den menschlichen Emotionen führen, siehe Figdor, a. a. O.
4 Einige Beispiele, wie Kinder Singen nützen, ihren Emotionen freien Lauf zu lassen, wie eine junge Frau ihre Sprachstörung im Singen hinter sich lässt und eine an Alzheimer erkrankte ehemalige Ballerina durch Musik wieder Kontakt zu ihrer Vergangenheit und Sprache gewinnt, habe ich 2023 in einem Videovortrag präsentiert: www.app-wien.at > Für Fachleute > Vorträge > Video Vortrag Helmuth Figdor APP-Fachtagung 2023: „Sag’, wo die Gefühle sind, wo sind sie geblieben? Sag’, wo die Gefühle sind, was ist geschehen?“ (Stand: 1.7.2025).

Lesen Sie weiter in Ausgabe 4/2025.

Page Reader Press Enter to Read Page Content Out Loud Press Enter to Pause or Restart Reading Page Content Out Loud Press Enter to Stop Reading Page Content Out Loud Screen Reader Support