Schäfer, Martha
Welche Jugend musiziert eigentlich?
Eine qualitative Interviewstudie mit Instrumentallehrenden zu „Jugend musiziert“
Die Teilnehmerzahlen am Wettbewerb „Jugend musiziert“ sind zwischen 1964 und 2013 fast um das Achtfache gestiegen.1 Trotz der hohen Teilnehmerzahlen und seiner prominenten Wahrnehmung in der Öffentlichkeit ist der Wettbewerb jedoch eher selten Gegenstand empirischer Forschungen geworden. Dieser Beitrag stellt einige Ergebnisse einer qualitativen Interviewstudie mit Instrumentallehrenden zu „Jugend musiziert“ von 2017 vor und zeigt weiteren Forschungsbedarf auf.
Seit den Studien von Hans Günter Bastian,2 in denen qualitative und quantitative Befragungen von WettbewerbsteilnehmerInnen zu ihren Biografien und musikalischen Werdegängen im Vordergrund standen, sind kaum weitere Studien durchgeführt worden. Zur Bearbeitung dieser bis heute noch bestehenden Forschungslücke wurde im Rahmen einer Masterarbeit unter der Betreuung von Heiner Gembris am Institut für Begabungsforschung in der Musik (Universität Paderborn) ein Beitrag geleistet.
In einer explorativen Studie wurden sieben Instrumentallehrkräfte städtischer Musikschulen mit Hilfe eines eigens erstellten Interviewleitfadens zu ihren Erfahrungen in Bezug auf „Jugend musiziert“ befragt. Alle verfügten über langjährige Erfahrungen in der Wettbewerbsvorbereitung von SchülerInnen. Der Interviewleitfaden umfasste unterschiedliche Themenbereiche wie „Motivation zur Teilnahme“, „Vorbereitung auf den Wettbewerb“ sowie „Positive und negative Erfahrungen der Lehrenden“. Die Interviews wurden transkribiert und mittels qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet, strukturiert und miteinander verglichen. Ausgewählte und für besonders interessant zu erachtende Ergebnisse aus den Bereichen „Jury und Bewertung“, „TeilnehmerInnen und sozialer Hintergrund“ sowie „Motivation“ sollen hier dargestellt werden.
Jury und Bewertungssystem
Bemerkenswerterweise wurde in allen Interviews der Bereich „Jury und Bewertung“ angesprochen. Häufig wurde hinterfragt, inwiefern Bewertungen objektiv seien und ob eine objektive Bewertung überhaupt möglich sei. Einig waren sich die Befragten jedoch darüber, dass Bewertung von Musik immer einem gewissen Grad an Subjektivität ausgesetzt ist. Für die Lehrenden ergibt sich daher die Aufgabe, ihren SchülerInnen eine angemessene Erwartungshaltung für den Wettbewerb zu vermitteln: „Das versuche ich meinen Schülern immer zu erklären, dass es niemals objektiv ist. Und deswegen kann es sein, dass man einen Tag erwischt oder eine Jury erwischt, die aus irgendwelchen Gründen einen schlecht bewertet; und man versteht es nicht so ganz, ist vielleicht auch nicht richtig, aber das müssen die Schüler abkönnen. Und deswegen, diese Verantwortung der Lehrer finde ich ganz, ganz, ganz wichtig.“ (Interview 2)
Aufgrund des hohen Nachdrucks, mit dem dieser Lehrer, aber auch andere der Interviewten diesen Aspekt hervorheben, wäre eine intensivere, psychologisch fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema wichtig: Wie sollte ein Gespräch aussehen, mit dem Lehrende ihren SchülerInnen tiefgehende Enttäuschungen ersparen können und dem Kind klarmachen, dass der Wettbewerb zwar wichtig sein kann, aber nicht entscheidend ist? Welche weiteren Möglichkeiten gibt es zudem, Kinder und Jugendliche mit einem gesunden Maß an Ehrgeiz und Spaß am Musizieren in den Wettbewerb zu schicken?
Auch die Andeutung, dass die Bewertungen der Jury manchmal „vielleicht auch nicht richtig“ seien, findet sich in den Transkripten mehrerer befragter Personen wieder, indem sie die fachliche Qualifikation und Kompetenz mancher Juroren anprangern: „Manchmal sind wir bass erstaunt, was die Juroren den Schülern erzählen, und das ist fachlich manchmal auch falsch.“ (Interview 6) Anscheinend sind solche Defizite in der Bewertung überwiegend in den unteren Wettbewerbsebenen zu finden, dort sei die Jury „zusammengeschustert“ (Interview 2). Jedoch stellen solche Fälle nicht die Regel dar.
Als überaus positiv bewerteten die Instrumentallehrenden jedoch die Anzahl der Preise, die „Jugend musiziert“ jährlich vergibt und die eine Teilnahme attraktiv machen. Ebenso positiv seien die persönlichen Beratungsgespräche, durch welche eine „nebulöse Punktzahl“ (Interview 5) transparent gemacht werde. Eine Stimme erhob sich aber auch gegen die Vergabe von Preisen, da durch die Punktespanne, die durch den jeweiligen Preis abgedeckt werde, Ungerechtigkeiten entstehen könnten: „Man kann das nicht in einen Topf werfen, finde ich. Für mich würden die Punkte völlig ausreichen, denn die Punkteskala ist eindeutig.“ (Interview 2)
WettbewerbsteilnehmerInnen
Dass der Wettbewerb reizvoll ist, belegen – wie erwähnt – die jährlich wachsenden Teilnehmerzahlen. Besonders interessant ist jedoch, dass sechs der sieben Instrumentallehrkräfte im Gegensatz zur Statistik angeben, einen deutlichen Rückgang der Anmeldungen für „Jugend musiziert“ beobachtet zu haben. Dieser Rückgang sei nicht nur bei Musikwettbewerben, sondern auch in Orchestern, Musikschulen und beim kammermusikalischen Musizieren zu beobachten (Interview 4). Zwar schwankt die Zahl der „Jugend musiziert“-TeilnehmerInnen der vergangenen zehn Jahre zwischen 16000 und 24000, jedoch ist keine Tendenz eines deutlichen Rückgangs zu beobachten.3 Möglicherweise ist die Einschätzung der befragten Personen ein regional bedingtes Phänomen, das sich im besonderen Maße in der Gegend der Probandengruppe abzeichnet.
Alle Lehrpersonen führten diesen Verlust der TeilnehmerInnen auf die Schule zurück. Während sich manchmal vorsichtig auf im Kollegium kursierende Vermutungen bezogen wird, in denen die Schule als wesentlicher Störfaktor identifiziert wird, wissen andere: „Das liegt ganz deutlich an G8.“ (Interview 4) Die naheliegendste Erklärung für den negativen Einfluss des Nachmittagsunterrichts und der Ganztagsschule ist die zeitliche Einschränkung der Freizeit und somit auch der Übezeit: „Wenn man abends um sechs aus der Schule kommt, wann soll man denn dann anfangen, sein Instrument zu üben?“ (Interview 4), fragt ein Lehrer nicht zu Unrecht.
Neben der Schule haben nach Meinung der Befragten ebenso die Medien einen erheblichen Einfluss auf das Instrumentalspiel der Kinder und Jugendlichen: „Wir leben im Moment in einer Handygesellschaft, das ist einfach so. Und Handy ist das zentrale Thema. Also heute für ein Handy 600 Euro auszugeben, ist überhaupt nicht schwierig für Jugendliche. Aber so eine Querflöte, wenn die dann mehr als 150 Euro kostet, wird es schon schwierig.“ (Interview 4)
Jedoch fällt bei der Beschreibung des Übeverhaltens ihrer SchülerInnen besonders auf, dass bei fast allen befragten LehrerInnen die vielleicht unbewusste, aber dennoch sehr deutliche Trennung von „Jugend musiziert“-Kandidaten und Nicht-„Jugend musiziert“-Kandidaten vorgenommen wurde: „Ich glaube, wer Klavier spielen möchte, der lässt sich vom Handy nicht unbedingt beeinflussen. Also ich habe schon Schüler, für die das auch ein Problem sein kann, aber die fahren auch nicht zum Wettbewerb, das sind so – ich sage mal – normale Schüler.“ (Interview 5) Durchaus könnten die zuvor genannten Faktoren das Übeverhalten negativ beeinflussen, jedoch betreffe dies nur solche SchülerInnen, die den Anforderungen des Musikwettbewerbs ohnehin nicht genügen.
Nach Aussage der Lehrenden haben weder die Schule noch der erhöhte Medienkonsum ihrer SchülerInnen dem „Jugend musiziert“-Niveau geschadet. Ganz im Gegenteil bemerken sie eine Niveausteigerung, die sich gerade auf der Bundesebene positiv entwickelt habe. Im Gegensatz dazu gibt es jedoch bei den Regionalwettbewerben anscheinend immer mehr musikalische Beiträge, die für „Jugend musiziert“ vor einigen Jahren noch nicht gut genug gewesen wären. Als Erklärung wird in einem Interview die steigende Fokussierung auf Breitenförderung im Gegensatz zur Eliteförderung angeführt.
Anders hingegen nehmen zwei Lehrende die Ausrichtung des Wettbewerbs wahr. Sie sehen „Jugend musiziert“ als einen Treffpunkt für die Elite des Landes, ebenso wie ein Lehrer das Miteinander unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern vermisst: „Sie kommen, sie spielen, sie machen ihren Stiefel und dann gehen sie wieder.“ (Interview 6) Er wünscht sich von den Organisatoren mehr Bemühungen, die das Kennenlernen unter den WettbewerbsteilnehmerInnen ermöglichen und das Gemeinschaftsgefühl stärken.
Sozialer Hintergrund
Den Einfluss der Eltern auf den instrumentalen Werdegang der Kinder konnten die Interviewten bestätigen: Neben der finanziellen Unterstützung für das Erlernen und die Anschaffung eines Instruments und den organisatorischen Aspekten – der zeitliche Aufwand des Fahrens zur Musikschule oder zu Proben – scheint das Interesse der Eltern für das, was ihre Kinder tun, ein erheblicher Faktor in der musikalischen Laufbahn eines Kindes zu sein. Auch den regelmäßigen Kontakt von Eltern zu Musikschullehrenden schätzen Letztere sehr. Bei der unterstützenden Funktion der Eltern geht es nicht vorrangig darum, dass diese ihren Kindern auf musikalischer Ebene weiterhelfen, sondern vielmehr darum, dass sie Interesse gegenüber den Hobbies oder Leidenschaften ihrer Kinder zeigen. Natürlich ist es von Vorteil, wenn Eltern ihren Kindern beim Üben helfen können, ihnen technische oder interpretatorische Tipps geben und die Kinder somit schon früh einen Zugang zur Musik haben. Dennoch: „Es geht ja nicht nur um die Töne, die man selber spielt, sondern halt, dass man so eine Welt betritt. Und das, finde ich, ist enorm wichtig, dass da jemand ist, der einen unterstützt.“ (Interview 6)
Einen hohen Stellenwert wird auch der moralischen Unterstützung durch die Eltern zugeschrieben: „Ich glaube eher, dass die soziale Komponente weniger stark ist als mehr so das, was die Eltern an Rückhalt bilden und auch an Motivation und Unterstützung bei der ganzen Sache aufbringen. Das ist also wesentlich gravierender, als ob jemand aus einem wohlhabenden Haus kommt oder weniger.“ (Interview 7) Der als nicht ausschlaggebend erachtete sozioökonomische Hintergrund wird in einem anderen Interview ganz anders gesehen, indem sogar eine Korrelation zwischen der Qualität und dem Preis eines Instruments und dem Wettbewerbserfolg hergestellt wird: „Ein Instrument anzuschaffen ist immer auch eine Finanzgeschichte. Und je nachdem, ob Sie jetzt an den Regionalwettbewerb denken oder auch Landeswettbewerb oder Bundeswettbewerb: Da gehen auch schon ganz gute Preise über den Tisch, und da ist eben entscheidend auch, was man für ein Instrument spielt.“ (Interview 4)
Man kann annehmen, dass einer finanziellen Investition, die gerade bei Instrumenten nicht gering ist, ein gewisses Interesse seitens der Eltern vorangehen muss. Das Bewusstsein für die Wichtigkeit von Musik als kulturelle Praxis ist nach Aussagen der Lehrenden in den höheren Bildungsschichten sowieso ausgeprägter. So verwundert es nicht, dass vor allem „Lehrerkinder“, „Ärztekinder“ (Interview 4) und „Akademikerkinder“ (Interview 5) in den Musikschulen angemeldet sind und die Unterstützung durch die Eltern bei diesen Kindern entsprechend hoch ist.
Motivation und Vorbereitung auf den Wettbewerb
Die Gründe für die Vorbereitung auf „Jugend musiziert“ liegen für die meisten Lehrenden zum einen in der enormen instrumentalen Entwicklung, die bei den SchülerInnen in der Vorbereitungsphase stattfindet. Zum anderen sehen viele der Befragten deutliche Vorteile für die persönliche Entwicklung ihrer SchülerInnen sowie eine Bereicherung im Hinblick auf die Lebenserfahrung durch eine Wettbewerbsteilnahme: „Also, wer ein gutes Konzert spielen kann, der wird auch gut reden können, der wird sich auch vor einem Publikum präsentieren können. Es ist ja nicht nur das Musikmachen. Die lernen ja ganz andere Dinge: Sozialkompetenzen, die Verlässlichkeit, sich vor anderen präsentieren, Höflichkeitsformen. Das ist ja fast für mich noch wichtiger.“ (Interview 4)
Zudem wird in nahezu allen Interviews betont, dass der Spaß am Musizieren und am Wettbewerb im Vordergrund stehen sollte und nicht der elterliche oder pädagogische Ehrgeiz, einen Preis gewinnen zu müssen, denn „was da an Funken im Grunde überspringt mit Spaß und mit Ausgelassenheit und Kreativität, also einfach das Miteinander, das ist im Grunde das, was am meisten dann beflügelt (Interview 6).
Offene Fragen
Dieser begrenzte, dennoch aufschlussreiche Blick auf Musikschullehrende zeigt, dass es weitere lohnenswerte Forschungsgebiete zu bearbeiten gibt: Wie gestaltet sich eine Wettbewerbsvorbereitungsphase, die von allen Lehrenden als sehr intensiv und als Hauptkatalysator der instrumentalen Entwicklung beschrieben wird, im Einzelnen? Inwiefern unterscheidet sich das Übeverhalten von solchen Schülerinnen und Schülern, die reelle Chancen bei „Jugend musiziert“ haben, von solchen, bei denen die Einschätzung der Lehrenden eher lautet: „Die würde jetzt mit ‚Jugend musiziert‘ abkacken.“ (Interview 6) Erstrebenswert wäre auch eine Ausweitung der Stichprobe auf jene Lehrkräfte, die bewusst von einer Anmeldung ihrer SchülerInnen bei „Jugend musiziert“ absehen.
1 vgl. Deutscher Musikrat (Hg.): Lass’ hören. 50 Jahre „Jugend musiziert“, Conbrio, Regensburg 2013, S. 174.
2 Hans Günter Bastian: Jugend musiziert. Der Wettbewerb in der Sicht von Teilnehmern und Verantwortlichen, Schott, Mainz 1987; ders.: Leben für Musik. Eine Biographie-Studie über musikalische (Hoch-) Begabungen, Schott, Mainz 1989; ders.: Jugend am Instrument. Eine Repräsentativstudie, Schott, Mainz 1991.
3 vgl. Deutscher Musikrat, S. 174.