© Andreas Denhoff

Rademacher, Ulrich

Wenn Interpreten zu Schöpfern werden

Gelingensbedingungen für ein gleichwertiges ­Miteinander von Improvisation, Komposition und Interpretation

Rubrik: Aufsatz
erschienen in: üben & musizieren 6/2016 , Seite 18

Der Funke, der in glücklichen Momenten vom Interpreten auf das Publikum überspringt, dieses Wunder von berühren und berührt ­werden ist sehr scheu und abhängig von Voraussetzungen, deren Erfül­lung in einem magischen Moment auch die ­tausendste Aufführung eines aufgeschrie­benen Werks zu einem absolut neuen Kunstwerk, einer neuen Schöpfung macht: Schöpfung durch Interpretation.

Interpretation – das ist Suche nach einem inneren Zusammenhang, nach dem Lebensprinzip eines Musikstücks, nach Gehalt und Gestalt, dem roten Faden. Was ist wesentlich, was schmückt aus, was steht, was bewegt sich – wann, woher, wohin? Gibt es eine die Musik bestimmende, übergeordnete Idee? Ist mein Instrument, meine Stimme, mein Spielapparat dafür genügend trainiert, gestärkt, sensibilisiert? Kann ich das Erkannte, Erfühlte, Erarbeitete nachzeichnen?
Die Gewohnheit, das umfassende Bedürfnis, hinter die Dinge zu schauen, Lust und Drang nach Erkenntnis machen den Künstler zu einem sensiblen, wachen Beobachter seiner Umwelt, auch der Gesellschaft. Dies gilt in ganz besonderem Maße für den reproduzierenden Künst­ler, der zwischen intuitivem, ganzheitlichem Erfassen ­einer Gestalt und analytischem, handwerklichem Sich-heran-Tasten seinen eigenen Weg der Erkenntnis, des Erahnens, Sich-Begeisterns sucht.
Wenn aber, wie ich glaube, große Musik nicht nur Machwerk, sondern „Schöpfung“ ist, wenn sie etwas von „schöner Götterfunken“ hat, wenn sie aus der Kraft des Kosmischen Sinn, Inhalt und Hoffnung stiften, neue Kräf­te freisetzen und begeistern soll, kann sie letztlich nur von Menschen interpretiert und nachgeschaffen werden, die offen sind für die Kräfte, die im Kunstwerk, in ihnen selbst, in der Atmosphäre des Ortes und in der Spannung zwischen Künstler und Publikum liegen. Bei der Vorbereitung auf einen solchen nachschöpferischen Akt nimmt das handwerkliche Üben des Instruments bzw. der Stimme einen keineswegs geringen Stellenwert ein. Technik muss hier zusammenspielen mit Fantasie, dem Wissen um Inhalte, Stile und Entwicklungen in der Musik, mit Körperbewusstsein und der Fähigkeit des Zuhörens. Ein ebenso wichtiger Teil der Vorbereitung ist das Abbauen von inneren und äußeren Barrieren, die das Empfangen der Inspiration des Kunstwerks, des ­Ortes, des Pub­likums, der Tradition, des Moments erschweren oder gar unmöglich machen.

Jede Musikschule sollte für sich ­prüfen: Gibt es Raum für Impro­visation? Ist neben Theorie und Gehörbildung Raum für Komposition? Werden Eigenkompositionen von Schülerinnen und Schülern vorgestellt, einstudiert, präsentiert, ­diskutiert, wertgeschätzt?

Wenn dies gelingt, kann der reproduzierende Künstler selbst Schöpfer werden: Schöpfer eines Kunstwerks, das nur in der Zeit und am Ort des Geschehens, nur für ihn und die offenen Ohren und Herzen seiner Zuhörer existiert.
Dies alles gilt prinzipiell nicht nur für das große Podium, sondern auch im Kleinen, etwa in der täglichen Musikschularbeit. Es macht schon einen Riesenunterschied, ob eine besessene und begabte Klavierschülerin ihr Wohltemperiertes Klavier, ihre Apassionata oder ihre Ligeti-Etüden in einer reinen Denkmalspflege-Musikschule studiert oder ob sie hörend, reflektierend, spielend, improvisierend und komponierend in einem größeren Kosmos musikalischer Klänge und Konzepte ihren Platz sucht und findet.
Musikschule sollte solch ein offener und inspirierender Lernraum sein. Jede Musikschule sollte für sich prüfen, ob die Balance stimmt und wie viel Geld, Zeit und Aufmerksamkeit in die dafür relevanten Bereiche investiert werden. Gibt es Raum für Improvisation (außerhalb der Jazz- und Pop-Abteilung)? Ist neben Theorie und Gehörbildung Raum für Komposition? Werden Eigenkompositionen von Schülerinnen und Schülern vorgestellt, einstudiert, präsentiert, diskutiert, wertgeschätzt?
Aber auch außerhalb von Musikschulen gibt es Baustellen und Chancen! In die richtige Richtung weist aus meiner Sicht der Hamburger Wettbewerb Tonali, der sich gleichzeitig an junge Komponisten, Nachwuchsinterpreten und das Publikum richtet, und zwar sehr erfolgreich. Oder die Initiative des Deutschen Musikrats mit dem Namen „Impulse“: Hier werden junge Interpretinnen und Interpreten angeregt und dabei unterstützt, bei Komponisten und Komponistinnen ein neues Werk in Auftrag zu geben, es gemeinsam einzustudieren, im Wettbewerb zu präsentieren und einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Hierzu passen auch die Herausforderungen von „WESPE“ – Wochenenden der Sonderpreise bei „Jugend musiziert“ –, wo junge Interpretinnen und Interpreten angeregt werden, sich selbst auf die Suche nach Unerhörtem zu machen und es zum Klingen zu bringen, ob mit der Interpretation eines zeitgenössischen Werks, eines bisher selten aufgeführten Werks einer Komponistin oder etwa eines Werks der verfemten Musik. Hier ganz selbstverständlich mit dabei: der Sonderpreis für die beste Interpretation eines selbst geschriebenen Werks.
Aber selbst die so innovative „WESPE“ musste noch einmal dazulernen: Was haben wir uns nicht für Mühe gegeben, um bei „Jugend musiziert“ für die verschiedenen Epochen und Stilistiken kluge, zutreffende Kategorien zu definieren. Ganz besonders auch für die neuere Musik. Das muss wohl so sein, um im Rahmen von Wett­bewerben, die ja Vergleichs- und Bezugsgruppen brauchen, zu fairen, transparenten und nachvollziehbaren Ergebnissen zu kommen. Musik hat aber gerade durch diesen Einordnungsreflex schon etwas Museales, egal, wie aktuell sie sein mag. In den Köpfen, im Herzen und im Blut unserer Kinder sind aber Schubladen für Musik nicht vorgesehen. Sie hören und spielen alle historischen Stile, neue und neueste sogenannte E-Musik, Rock, Pop, Jazz, Musical, improvisierte Musik und Weltmusik.
Daher gibt es bei „Jugend musiziert“ jetzt „Jumu open“. Hier ist alles willkommen, für das es bisher keinen Platz bei „Jugend musiziert“ gab – inklusive Improvisation. Alle Stile. Alle Genres. Alle Instrumente. Musik aus Genres, die bisher für „Jugend musiziert“ tabu waren. Musik in einer anderen als der „klassischen“ (auch klassisch-zeitgenössischen) Tonsprache. Musik, die nicht auskomponiert, sondern improvisiert ist, die sich in keine der üblichen stilistischen Kategorien und in keine Schub­lade einordnen lässt, die sich vielleicht mit anderen künstlerischen Sparten verbindet.
Vielleicht gelingt uns so eine Bestandsaufnahme der Musiksprache unserer Jugend. Vielleicht ahnen wir dann eher, wo es mit der Musik der Zukunft hingehen könnte. Barrierefrei. Vielleicht könnten wir klarer sehen, wo wir qualifizieren müssen, Hilfe leisten und mit besserem Handwerk neue Ausdrucksformen ermöglichen könnten. Es kann ja nicht sein, dass wir „Alten“ glauben, den „Jungen“ zeigen zu können, wo die Zukunft ist!
Es gibt für „Jumu open“ nur wenige, ganz einfache Bedingungen: Die Musik ist selbst komponiert oder mit ­eigener „Handschrift“ adaptiert oder improvisiert, die Teilnehmenden sehen sie als „ihre Musik“, die ihnen wichtig ist und die sie gerne präsentieren möchten, die Teilnehmenden waren Preisträger beim vergangenen Bundeswettbewerb, sie sind selbst die Interpretinnen und Interpreten und bringen alles, was für die Performance nötig ist, selbst mit – gegebenenfalls auch bis zu drei weitere Mitwirkende, die nicht zwingend „Jugend musiziert“-Teilnehmer gewesen sein müssen und für die keinerlei Beschränkungen gelten. Auch wenn elektronische Einspielungen verwendet werden, hat die Performance ausgeprägten Live-Charakter.
Dass bei der Premiere im Rahmen von „WESPE“ in Müns­ter von den vielen Meldungen nur zwei den Herausforderungen der Ausschreibungen entsprachen, entmutigt die Neuerer nicht. Die Kommunikation muss einfach besser werden! Die beiden zustande gekommenen Wertungen hingegen erwiesen sich als ausgesprochen preis­würdig und ermutigend. Die Improvisation des jungen Akkordeonisten Julius Schepansky begeisterte Jury und Publikum. Übrigens auch dadurch, dass sich die Improvisation beim Wettbewerbsvorspiel deutlich von der im Preisträger-Konzert unterschied.
Egal, ob das jetzt innovativ klingt oder als Sehnsucht nach „guten“ alten Zeiten herüberkommt, in denen Musikerinnen und Musiker ganz selbstverständlich improvisierten, komponierten, spielten (und auch noch unterrichteten und organisierten), möchte ich hier dafür werben, dass das Generalbassspiel, das Begleiten von Liedern, das Erfinden von Solo-Kadenzen, Komposition als Einzel-, Gruppen- und Klassenunterricht mehr und mehr Schul-, Musikschul- und Musikhochschul-Wirklichkeit wird.
Auch Improvisation, sei es im Einzelunterricht oder in freien, partizipativen Konstellationen, in denen Lehrende Teil des Teams sind, steht auf der Wunschliste. Raum für Improvisation an – solange das in Bezahl-Konzerten noch nicht geht – Schulen, Musikschulen, Musikhochschulen und hoffentlich weiter auch in Kirchen, innerhalb welcher Veranstaltungsformate auch immer.
Denn auch das Vergnügen, Zeuge der Entstehung von musikalischen Gedanken zu sein und mit den Musizierenden gemeinsam deren Weiterentwicklung live zu verfolgen, will geübt sein.

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